Achtsam auf das innere PotentialVerabredung mit mir selbst

Momente der Stille und der Harmonie, in denen alles mühelos zusammenpasst sind ein Kennzeichen erfüllter Einsamkeit.

Zeit, die mir gehört

Das erste, was ich am Morgen hörte, war die Stille. Bald drang das Miauen der Katze, die nach ihrem Frühstück verlangte, in mein Bewusstsein und trieb mich aus dem Bett. Ich stand auf, machte das Fenster sperrangelweit auf und lehnte mich hinaus, um einen besseren Blick auf das Meer zu bekommen. Es war unendlich schön, allein hier auf dem Lande zu sein und zu wissen, dass die Zeit mir gehörte. Vor mir lag ein neuer Tag, den ich in meinem eigenen Rhythmus entdecken und mit dem ich machen konnte, was ich wollte.

Die selbst gewählte Einsamkeit beschreibt am besten das deutsche Wort abgeschieden. „Die Sprache hat das Wort einsam geschaffen, um den Schmerz des Alleinseins, und das Wort abgeschieden, um seinen Reichtum auszudrücken“, schreibt Paul Tillich. Abgeschiedenheit beschreibt, dass man ein entspanntes, von Neugierde geprägtes Verhältnis zu sich selbst hat, dass man sich wohl fühlt in seiner eigenen Gesellschaft und sich mit demselben Respekt behandelt, das man einem Freund entgegenbringen würde. „Wenn du alleine bist, verhalte dich, als hättest du hohen Besuch; wenn du hohen Besuch hast, verhalte dich, als wärst du alleine“, lautet ein Zen-Sprichwort. Abgeschiedenheit lädt dazu ein, dankbar zu sein für den gegenwärtigen Augenblick, den Moment, der gerade jetzt ist, und ihn mit all seinen Sinnen wahrzunehmen, im Unterschied zu dem Augenblick, der vorbei ist oder kommen wird. Es tut gut, sich Zeit für sich zu gönnen. Dadurch, dass man sich von den Regeln und Zwängen des sozialen Umgangs befreit, bekommt die innere Welt die Chance, in Erscheinung zu treten.

Hellhörig werden

Ein Vorteil der Einsamkeit liegt darin, dass man ohne vorgegebenen Kompass seinen Gedanken folgen kann, dass man hellhörig werden kann auf sein Innerstes und sich selbst etwas näher kommen kann. Da können lange vergessene Erinnerungen, schlummernde Gedanken wieder zum Leben erwachen. Ahnungen werden zu Gedanken und Gedanken werden zu Einsichten, die uns helfen, Nebensachen vom Wesentlichen zu unterscheiden. Wir bekommen Distanz zu dem, was uns sonst verschlingen würde. Alltagssorgen, wie beispielsweise die Frage danach, wie wir aussehen und was die Leute denken werden, nehmen angemessene Proportionen an. Außerdem ist es schön, die ganze Angeberei, den Klatsch, alles, was sich im Kielwasser des sozialen Lebens tummelt, loszuwerden. Ob die Fingernägel lackiert sind oder wir die richtige Krawatte an haben, wird völlig belanglos. Wir entdecken Seiten an uns, von denen wir nichts wussten. Die Widersprüche kommen ans Tageslicht: dass wir enge Beziehungen suchen und trotzdem frei sein wollen, dass wir in Sicherheit leben können und uns trotzdem dem Neuen öffnen, dass wir unsere Illusionen behalten und trotzdem die Welt sehen, wie sie ist, dass wir uns selbst kennen lernen können und uns dennoch gegen Selbsterkenntnis wehren.

Keine Sonne ohne Schatten

Vielleicht bekommen wir ein Vorgefühl von dem, was lebenskräftig und schöpferisch ist – aber auch von dem Destruktiven und Zerstörenden. Es kann ungewohnt und beängstigend wirken, wenn man zu erahnen beginnt, was sich innerlich alles abspielt, vor allem dann, wenn sich unerwünschte oder verbotene Gedanken und Gefühle zu erkennen geben. Zeitweise ertrinken wir in Gefühlen, die wir schon lange als überwunden betrachteten: Minderwertigkeitsgefühle, Versagensängste, Zorn über etwas, das einem angetan wurde, Reue über etwas, das man selbst getan hat. In solchen Fällen ist es besonders wichtig, dass wir uns nicht dazu verleiten lassen, vorzeitig Wege aus der Einsamkeit zu suchen, sondern dass wir ausharren und das Geschehen seinen Lauf nehmen lassen. Wir dürfen alles annehmen und überprüfen. Auch zur positiven Einsamkeit gehören schwere Momente dazu. Letztlich sind es oft gerade diese Augenblicke, die geradewegs zur Klarheit und Selbstannahme führen. „Keine Sonne ohne Schatten. Man muss lernen, die Nacht zu fühlen“, schreibt Albert Camus.

Gesegnete Augenblicke

Menschen, die ziemlich selbstsicher sind, können aus der Einsamkeit den größten Nutzen ziehen. Es kann sogar passieren, dass wir in der Einsamkeit von einer besonderen Freude und einem stärkeren Gefühl für den Sinn des Lebens erfüllt werden, die an andere gesegnete Augenblicke erinnern: daran, wenn man sich einem Musikstück hingibt, in einem Kunstwerk ganz aufgeht, sich von einer Aufgabe einfangen lässt, ein Kind streichelt, an einem frühen Sommertag seinen Blick auf den Horizont richtet, auf einem Berggipfel steht oder das Gesicht seines Liebsten betrachtet, wenn er schläft. Die Worte reichen nicht aus, um die Gefühle zu beschreiben, die dabei geweckt werden. Wir können sie nur dankbar annehmen.

Ganz bei mir – im Einklang

Zu dem Allerbesten in den Augenblicken selbst gewählter Einsamkeit gehören die Momente der Stille und Harmonie. Plötzlich passt alles mühelos zusammen. Für einen kurzen Augenblick ist da nichts, was uns stört, nichts, was uns fehlt. Wir sind in Einklang mit uns selbst, und es reicht, dass es uns gibt. „Das Leben ist ein sexuell übertragbares Leiden, das unweigerlich zum Tode führt“, habe ich irgendwo gehört. Vielleicht haben deshalb viele von uns eine Aversion gegen die Einsamkeit wegen der unbewussten Angst vor dem Tod und davor, einsam zu sterben. Wir wissen alle, dass wir sterben werden. Aber es kann ein ganzes Leben dauern, bis wir das akzeptieren. In einer Gesellschaft, in der Alter und Tod unter den Teppich gekehrt und uns fremd werden als etwas, das anderen, nur nicht uns selbst widerfährt, bekommen wir nicht besonders viel Hilfe, um uns mit dem Tod zu versöhnen.

Beginne in dir selbst

„Beginne niemals außer dir, wenn du deine Welt ordnen willst, das, was du für deine Welt hältst. Beginne in dir selbst; beginne mit dem genauen Wort! Ich sage dir: Beginne in der Stille!“ So lautet die zweite Strophe in dem Gedicht „Die Predigt“ des schwedischen Dichters Ola Persson. Wenn wir mit uns alleine sind, bekommt der Tag eine neue, ganz andere Bedeutung. Wir finden Zeit nachzudenken, zu verschmerzen, zu verbinden, Zeit uns auszusöhnen, um zu reparieren und zu erschaffen, um das Alte zu erinnern und uns für das Neue zu bereiten. Und uns mit dem Wesentlichen konfrontieren zu lassen: Was mache ich aus meinem Leben und wohin gehe ich? Diese Einsichten reifen nur in der Stille. Ganz tief in jedem von uns befindet sich ein Schatz – man muss sich nur die Zeit nehmen und ihn suchen.  

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