Menschenfreundliche Theologie
Auch die große Hildegard von Bingen ist ein Kind ihrer Zeit gewesen und keines-wegs immer eine forsche Vordenkerin: Sie ist davon überzeugt, dass böse Geister Tannenholz hassen, und sie glaubt selbstverständlich an die Existenz des menschenfressenden Vogels Greif. Leidenschaftliche Männer mit kräftigem Samenerguss dürfen sich laut Hildegard auf einen gesunden Sohn freuen, während ein dünnflüssiges Sperma nur ausreicht, ein Mädchen zu zeugen. Und natürlich „ist das Weib schwach und blickt zum Mann auf, um von ihm versorgt zu werden, ähnlich wie der Mond seine Stärke von der Sonne empfängt.“ Aber dann gelingen ihr in ihren Visionen Bilder von gewaltiger poetischer Kraft, plastisch und farbig. Sie ist Dichterin, Theologin, Komponistin, Natur-wissenschaftlerin, Ärztin, Apothekerin. Sie leitet zwei Abteien gleichzeitig, wechselt selbstbewusste, aber auch sehr sensible Briefe mit Päpsten, Königen, Ärzten und Ehefrauen. Anders als die Mystikerinnen des späten Mittelalters träumt sie nicht von einer intimen Vereinigung mit Gott als dem himmlischen Bräutigam. Stattdessen versucht sie ihn durch seine Schöpfung zu er-kennen. Ihre höchste Lust ist es, dem Himmelskönig bei der Ordnung und Er-haltung des Alls zuzusehen. Allein zu dem Zweck sei Gott Mensch geworden, um die schwachen, hinfälligen Erdbewohner zu seinem Herzen emporzuheben. Hildegards lebensbejahende Schöpfungstheologie, ihre vitale Verbindung von Treue zur Erde und Liebe zum Himmel, ihr Bewusstsein von der Einheit aller Kreatur – all das bildet den Hintergrund ihrer ganzheitlichen Medizin, die in die Regel mündet: „Pflege das Leben bis zum äußersten!“
Warum Tränen eine Medizin sein können
Krankheit ist für Hildegard kein pathologischer Prozess, sondern eine Degeneration menschlichen Lebens, ein Defizit an Lebenskraft. In ihrer Bildersprache ausgedrückt: Die Schwarzgalle, melancolia, dominiert über die gesunde Grünkraft des Lebens, viriditas. Deshalb besteht der Heilungsprozess in einer Umkehr, die Körper und Seele, Verstand und Gemüt umgreift, in einer Revolution des Lebensstils und der Lebensziele. Deshalb können Tränen für Hildegard eine Medizin sein – weil Reue das Leben verändern kann. So verstanden, ist Gesundheit nicht durch punktuelle Reparaturprozesse an beschädigten Organen zu erreichen. Gesunde Lebensführung wird zur täglichen Aufgabe. Und wenn einmal ein ärztlicher Eingriff notwendig ist, dann muss er den ganzen Organismus im Blick haben, darf die äußeren Lebensumstände nicht vernachlässigen und muss mit einem Vor- und Nachsorgeprogramm kombiniert sein.
Rezept für den Herrn Abt
„Achte mit Sorgfalt darauf, dass durch die Wechselhaftigkeit deiner Gedanken die grünende Kraft, die du von Gott hast, in dir nicht dürr wird!“ Hildegards briefliche Mahnung an einen Abt ist ein echtes Rezept, obwohl von keinem Heiltrank und keinen Pillen die Rede ist. Wohl aber von der Lebens-kraft, die Gott in alle Elemente gelegt hat und die der Mensch durch ein bewusstes, gesundes, mit Gott und der Natur versöhntes Leben bewahren soll. Auch in ihren Klöstern lehnt sie freud-loses, übertriebenes Fasten genauso ab wie dumpfe Völlerei; „maßlos auferlegte gute Werke“ könnten den Menschen ja ebenso zugrunderichten wie zügellose Unmoral. Ja, irgendwo in Hildegards Visionen versteckt findet sich sogar der Hinweis, dass die Keuschheit ihr „natürliches Maß“ nicht übersteigen soll!
Zuwendung statt Magie
Geheilt hat sie durch Kräutersirup und Öle aus Pflanzensäften, durch feuchte Umschläge und schmerzstillende Salben – aber auch durch Gebet und Segnung. Bekannt geworden ist der Fall der geisteskranken Adeligen Sigewiza, die laut Hildegard unter einer „teuflischen Zusammenballung von Schwärze und Dampf“ litt, wodurch „das ganze Sinnesvermögen ihrer vernunftbegabten Seele“ verdunkelt worden sei. „So verlor die Frau ihr gesundes Denken und Handeln und rief und tat oft etwas Unziemliches. Die Seele ist indessen wie eingeschlafen und weiß nicht, was das Fleisch des Körpers tut.“ Für das zwölfte Jahrhundert war das eine erstaunlich klarsichtige psychosomatische Diagnose. Nachdem der übliche Exorzismus keinen Erfolg zeitigte und der boshafte Dämon in Sigewiza hartnäckig nach einer alten Klosterfrau namens „Schrumpelgardis“ rief, nahm die so verhöhnte Hildegard den Kampf auf, quartierte Sigewiza kurzerhand in ihrem Konvent ein und erfand eine Art Gemeinschaftstherapie für die tobende Frau mit Fasten und Beten. Ständige solidarische Zuwendung also. Während der Taufwasserweihe am Karsamstag soll die böse Macht ihr Opfer Sigewiza tatsächlich endgültig verlassen haben; die Frau trat später in die Klostergemeinschaft ein.
Seelendoktor Kneipp
Sieben Jahrhunderte später im Allgäu: Sebastian Kneipp, der „Wasserdoktor“ von Bad Wörishofen, ist kein Kloster-bewohner, sondern ein knorriger Dorfpfarrer mit den Qualitäten eines Naturheilers – aber er steht bewusst in der Tradition der menschen-freundlichen Medizin der Mönche. Er hat auch lange Jahre als Beichtvater dort im Kloster der Dominikanerinnen amtiert (und in der Waschküche im Klostergarten seinen ersten Patienten die später berühmt gewordene Wasserkur verpasst). Genau wie der großen Hildegard geht es ihm um die Heilung des ganzen Menschen, und deshalb ist das Gespräch über Lebenschancen und Seelenängste genauso wichtig wie ein gutes Medikament. Kneipp: „Erst als ich daranging, Ordnung in die Seelen meiner Patienten zu bringen, da hatte ich vollen Erfolg.“ Kneipps Bemühen, den ganzen Menschen mit Leib und Seele in den Blick zu bekommen, die falsche Lebensweise zu verändern und nicht nur an Symptomen herumzukurieren, trifft sich mit der modernen Kritik an der Apparatemedizin. Nach seiner festen Überzeugung braucht der Kranke weniger einen Mechaniker oder Spezialisten für das eine oder andere Organ, sondern jemanden, der ihm Barmherzigkeit erweist.
Frische Luft und Bewegung
Abhärten, Gesundheit trainieren, die ei-genen Heilkräfte im Menschen stärken, ein naturgemäßer Lebensrhythmus mit viel Bewegung und ausgewogener Ernährung – mit diesem zeitlosen Rezept ist Kneipp zum Nothelfer einer von zahllosen Zivilisationskrankheiten geplagten Menschheit geworden. Nicht darauf kommt es an, wie viel man isst, das schärft er seinen Patienten und Lesern immer wieder ein, sondern was man isst („Aus schlechtem Material lässt sich kein gutes Haus bauen“) und wie man die Nahrung zu sich nimmt. Wenig Salz, wenig Zucker, Gewürze aus dem heimischen Garten. Und drei Mahlzeiten am Tag seien für gewöhnlich genug. Frische Luft und viel Bewegung, vor allem auch für die viel zu oft verzärtelten und überbehüteten Dreikäsehochs. Ohne seinen dankbaren, von felsenfestem Vertrauen auf Gottes Nähe getragenen Glauben muss Kneipps hartnäckiges Engagement für die Bresthaften und die armen Schlucker, gegen alle Widerstände der staatlichen und kirchlichen Obrigkeit und gegen den wütenden Hohn der Schulmedizin, ziemlich verrückt anmuten. Es war ein nüchterner Glaube, frömmelnde Reden konnte er nicht ausstehen. Als es ans Sterben ging, lehnte er den Rat, in Lourdes Heilung zu suchen, unwillig knurrend ab: „Ich bin gläubig; Wunder sind nur notwendig für Leute, die nicht gläubig sind.“