Begegnungen. Martin Miller im GesprächSeelisch verletzt

Der Sohn der Kindheitsforscherin Alice Miller hat im eigenen Leben schmerzhaft erfahren, was es heißt, wenn eine Mutter ihre therapeutischen Einsichten gegenüber dem eigenen Kind nicht verwirklicht. Er wurde dadurch sensibel gegenüber seelischen Verletzungen im Leben von Menschen.

Martin Miller
Martin Miller, Psychotherapeut und Coach, lebt bei Zürich und ist Autor des Bestsellers „Das wahre Drama des begabten Kindes“ (Kreuz-Verlag).© Privat

einfach leben: Was versteht man unter einer seelischen Verletzung?
Martin Miller: Das spürt man. Es gedanklich zu erfassen, zu beschreiben und auch zu artikulieren, ist schon schwerer. Das Schlimmste ist nach meiner Erfahrung, wenn man von einer Bezugsperson, gar der eigenen Mutter, nicht wahrgenommen wird. Es ist ein natürliches Grundbedürfnis, sich im Erleben des anderen wahrgenommen zu fühlen. Nur dann erleben und spüren wir uns selbst. Schon als kleiner Säugling entwickeln wir auf diese Weise eine Vorstellung von uns. Dieses Bedürfnis bleibt, das ganze Leben über. Wenn jemand diese Erfahrung nicht macht, ist er permanent gezwungen, sie sich auf allen möglichen Wegen und mit allen erdenklichen Mitteln irgendwie zu holen, den Mangel zu kompensieren. Und das macht dann manchmal eine psychische Persönlichkeitsstörung aus.

Dass jemand überhaupt nicht wahrgenommen wird, das kommt ja wohl nur selten vor. Genauso folgenreich ist es, wenn wir falsch wahrgenommen werden. Was heißt das konkret?
Typisches Beispiel: Wenn mir etwas weh tut, und mein Gegenüber sagt: „Das tut doch nicht weh“, oder: „Deswegen weint man nicht.“ Wenn mir also eine Wahrnehmung aufgezwungen wird, zu der ich keinen Bezug habe. Oder Projektionen der Art, dass die Mutter sagt: „Du bist das gescheiteste Kind, ich weiß ganz genau, was gut ist für dich, du musst jetzt Chinesisch lernen, weil ich will, dass du später Diplomat in Peking wirst.“ In der Sprache der Psychologie nennt man so etwas Integritätsverletzung. Wir haben verlernt, Grenzen anderer zu respektieren und missverstehen das als Freiheit. Feingefühl und Respekt vor anderen sind in unserer Gesellschaft verloren gegangen. Auch bei vielen Eltern.

Haben Kinder nicht instinktiv das Gespür für diese Grenzüberschreitung – und wehren sich?
Ja, Kinder wehren sich zuerst, werden dann aber meistens – und darin liegt eigentlich die Gewalttätigkeit – von Erwachsenen überfahren durch eine besonders manipulative Form von Vereinnahmung. Bei mir ist eine junge Frau in Therapie, die sagt: „Mein größtes Problem ist: Ich habe das Gefühl, ich kann nichts machen, ich bin niemand.“ Dann stellt sich heraus: Sie war immer die beste Freundin ihrer Mutter. Die Mutter hat sie dauernd um Rat gefragt, ihre Sorgen an ihr abreagiert, eigene Probleme auf sie übertragen und nicht realisiert, dass ihre Tochter ein Kind ist, das ein Recht hat, sein eigenes Leben aufzubauen. Kinder werden zu den Eltern ihrer Eltern gemacht, sind deren einzige emotionale Stütze, weil viele Erwachsene nicht in der Lage sind, vielleicht auch nicht die Ressourcen haben, ihr eigenes emotionales Leben in den Griff zu bekommen.

Also ein ganz subtiler Leistungsdruck für die Kinder …
Mehr als das. Es ist emotionale Ausbeutung, ja Missbrauch. Eine Art psychischer Kinderarbeit! Kindern eine Kindheit zuzugestehen, ist eine moderne Errungenschaft. Und die wird kompromittiert, wenn Kinder ihre Eltern emotional unterstützen und dafür auf eine eigene Entwicklung verzichten müssen. So entsteht ein „falsches Selbst“, das nicht nur aufgrund von Gefügigkeit und Anpassung an die Bedürfnisse der Außenwelt entwickelt wird, sondern auch als eine Kolonisation der Außenwelt in Bezug auf mein eigenes Selbst: Ich muss auf meine eigene Identität verzichten. Am Schluss merke ich nicht mehr, dass die Bedürfnisse, die ich für die eigenen hielt, die Bedürfnisse der Außenwelt sind. Ich bin fremdgesteuert, ohne es zu wissen …

und leide möglicherweise nicht einmal darunter?
Doch! Wir haben alle ein Potenzial, das nach Entwicklung strebt. Wir können dieses Potenzial abspalten, aber nicht töten. Wir leiden, wenn es brach liegt, wenn die eigenen Ressourcen verdrängt sind. Wann kommt das als Leiden zum Ausbruch? Wenn ich plötzlich ein Gefühl von Sinnlosigkeit und von Leere habe. Wenn ich auch körperlich reagiere und mich unwohl, unzufrieden, eingeengt, überfordert oder belastet fühle. Es sind diffuse Empfindungen, an konkreten Dingen oft gar nicht festzumachen. Der „Knall“ hat dann meist einen Auslöser, der ganz banal scheint.

In welchen Situationen kommt es zum Beispiel dazu?
Ich komme ins Büro und zwei-, dreimal äußert sich der Chef, weil er vielleicht selber Probleme hat, negativ über meine Ar beit. Das kann das Fass zum Überlaufen bringen. Oder meine Frau sagt: „Wir waren schon lange nicht mehr in einer Stadt im Urlaub, immer musst du deine Bundesliga schauen.“ Oder: „Wenn du nicht mit mir schläfst, muss ich mir schon mal überlegen, ob ich mir einen anderen nehme.“ Plötzlich ist die Überforderung manifest. Es knallt.

Was steckt denn wirklich dahinter?
Meist ist es die verdrängte Frage: Was will ich eigentlich aus meinem eigenen Leben machen? Irgendwie wissen wir ja um die Fremdbestimmung, auch wenn das ein lange zugeschüttetes Wissen ist und nur diffus wahrgenommen wird. Menschen versuchen dann allerdings auch oft, an ihrer Situation wirklich etwas zu verändern.

Wie geht für sie der Weg weiter? Wird plötzlich alles anders?
Es ist ein längerfristiger Prozess. Ich muss lernen, die Realitäten zu akzeptieren, mit Grenzen umzugehen. Dann habe ich eine Chance, mich aus dem Jetzt heraus eigenverantwortlich darum zu kümmern und zu sehen: Wie kann ich meine eigenen Potenziale ausschöpfen? Wie kann ich trotz aller Begrenzungen ein Optimum aus meiner Situation herausholen?

Und wie kann ich mit den Problemen, den Verletzungen der eigenen Geschichte umgehen?
Mit den Verletzungen muss ich leben, weil sie ein Teil meines Lebens sind. Aber ich kann sie transformieren, indem ich sie einordne. Sie überfallen mich dann nicht mehr. Damit nimmt die Brisanz der Wiederholung ab. Ich kann mich wieder lösen, die Erregung selber managen und mich wieder „herunterholen“.

Das heißt nicht, dass man Gras darüber wachsen lassen sollte?
Das nicht, aber man kann eine emotionale Distanz herstellen: Indem ich um das weiß, was passiert ist, kann ich eine gedankliche Auseinandersetzung leisten, kann es in Worte fassen und den Zusam verstehen. Verstehen ermöglicht eine Reinigung oder eine Klärung von Gefühlen in dem Sinn, dass ich diese Gefühle in einen realen Kontext einordnen kann. Ich bin ihnen dann nicht mehr so ausgeliefert.

Und auch nicht mehr so fremdbestimmt?
Fremdbestimmung heißt, dass ich Gefühle abspalte und mein eigenes Selbst aufgebe. Wer fremdbestimmt ist, weiß gar nicht, wer er ist. Er identifiziert sich mit Vorgaben, also mit dem, was der andere mir sagt, wer ich bin und zu sein habe. Ich fühle so, wie der andere will, dass ich fühle. Fremdbestimmt heißt: Mich gibt es eigentlich nicht, weil ich auf das, was passiert, keinen Einfluss habe. Es ist aber ein psychisches Grundbedürfnis, dass wir uns am Leben beteiligen wollen. Und wenn uns das versperrt wird, löst das eben genau diesen Druck aus. Und irgendwann führt das zu psychischen Problemen.

Heilung passiert also letztlich über den Schmerz? Über das Leiden an der Entfremdung?
Sicher: Wir müssen uns gegebenenfalls das Recht mühsam erkämpfen, dass wir uns selber artikulieren können, unser Leben selbst gestalten können. Emotionale Distanz ist wichtig. Wenn ich die habe, kann ich auch anderen Menschen helfen, diesen Weg zu gehen, weil ich diesen Prozess kenne und weiß, dass er funktioniert. Wer die Heilung selber überlebt und überstanden hat, der hat auch die Kraft, anderen diesen Weg zu vermitteln, Mut zu machen.

Gibt es einen Königsweg? Wie wird man frei von solcher Fremdbestimmung?
Indem man sich selber Ziele setzt. Wer Ziele finden will, die seinem Bedürfnis entsprechen, braucht Eigenverantwortung und soziale Kompetenz. Die Grundfrage ist: „Was will ich?“ Wenn ich mir darüber klar geworden bin, muss ich dann allerdings auch wirklich anpacken. Darum kommt keiner herum, der frei werden will von Fremdbestimmung.

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