Begegnungen. Karoline Mayer im GesprächDie Liebe gibt die Kraft

Sie war als Ordensfrau aktiv im Widerstand gegen die Militärdiktatur Pinochets, wurde bedroht und verhaftet. Die Gründerin von Sozialwerken in mehreren lateinamerikanischen Ländern für Kinder, Obdachlose und Arme, von Gesundheitszentren, Ausbildungszentren, Frauenwerkstätten und Rehabiltationszentren, sprach mit Rudolf Walter über ihre innere Motivation.

Karoline Mayer
Karoline Mayer, „Mutter Teresa Lateinamerikas“, ist Ordensfrau und Entwicklungshelferin sowie Gründerin von Fundación Cristo Vive.© Privat

einfach leben: Gibt es Gottesaugenblicke in Ihrem Leben?
Karoline Mayer: Als Kind und Jugendliche schon hatte ich im Herzen diese große Sehnsucht danach. Er hat lange auf sich warten lassen. Und dann ist Seine Wirklichkeit in mein Leben eingebrochen: Einer dieser großen Gottesaugenblicke war beim Tod meines Vaters. Ich war Novizin und hatte verzweifelt mit Gott um das Leben meines Vaters gekämpft, der damals 49 war. Dann starb er überraschend in meinen Armen. Und ich spürte in diesem Augenblick Gottes Gegenwart. Sie hat mich bis an sein Grab und darüber hinaus immer wieder im Leben begleitet …

Staunen Sie manchmal über Gott?
Sogar sehr oft. Denn Er hat mich unbändige Frau total im Griff – und ich will es so, in voller Freiheit. Nie hätte ich mir vorstellen können, wie Er mich führen würde und bis zum heutigen Tag geführt hat. Auf schmerzlichen Umwegen kam ich an den Ort und zu den Menschen, für die ich mich berufen fühlte. Ich hatte keine Ahnung, dass ich so viele meiner Fähigkeiten, Talente, Sehnsüchte und Träume verwirklichen könnte im Dienst an den Menschen, besonders unter den Armen. Dass ich all das von den vielen Lehrerinnen und Lehrern, geistlichen Meisterinnen und Meistern, Freundinnen und Freunden vermittelte Wissen fruchtbar machen könnte für die Anderen. Ich staune über die Kraft und die Macht der Liebe Gottes in meinem Herzen, die mich nicht zurückschrecken lässt vor Leid und Elend, Hass, Verfolgung und Tod. Eine Kraft, die mir hilft durchzuhalten, die mich aber auch mit dem größten Glück erfüllt. Manchmal streite ich auch mit Ihm. Aber vor allem: Ich staune. Über die vielen kleinen wunderbaren Fügungen in meinem Leben. Und darüber, wie Gott unter meinem Blick Menschenherzen verwandelt hat.

Kennen Sie denn selber auch Zweifel?
Menschen können in bestimmten Situationen, für eine bestimmte Zeit oder für immer glauben, dass Gott für sie abwesend oder gestorben ist. Auch ich selber kenne die dunkle Nacht der Seele. Ich kenne die Zweifel. Als junger Mensch hatte ich große Probleme mit den rationalen Gottesbeweisen. Ich habe nicht gewagt, jemand von meinen „Glaubenszweifeln“ zu erzählen. Ich dachte, es fehle mir an Intelligenz und Glaube. Ich hatte Angst, von niemandem verstanden zu werden und die Glaubensgemeinschaft zu verlieren. Ich fühlte mich damals sehr allein …

Was ist Ihre Erfahrung mit Jesus? Welche Fragen hätten Sie heute an ihn?
Als ich sehr jung den Ruf Jesu spürte, ihm mein Leben zu schenken, sah ich mich, als kleines Mädchen vom Dorf, mit vielen Makeln und voller Selbstzweifel. Aber ich wollte mit Ihm etwas Großes werden und mit Ihm eine große Liebe leben. Die „Erfahrung mit Jesus“ hat alle meine Erwartungen übertroffen. Wahr ist, dass es oft und lange auch Trockenzeiten gegeben hat. Die sind mir jedoch im Nachhinein zur Gnade geworden: Wartezeiten, Frust, Enttäuschungen und Fehlschläge haben mich vieles gelehrt. Aber die wichtigste Begegnung mit Jesus ist beim Hören (Lesen) seiner „Frohen Botschaft“ mit den Armen geschehen. Ich erlebte, wie die Armen das Evangelium erfuhren und in ihr Leben umsetzten. Da hatte ich das Gefühl, dass es nun Jesus selbst war, der mich in seine Botschaft einführte. Seit jener Zeit brauche ich jeden Tag sein Wort in der Vielfalt, wie er damals zu seinen Jüngern und Jüngerinnen gesprochen hat. In seinem Leben, Wirken und Reden, in seinem Umgang und seiner Beziehung zu den Menschen, denen Er begegnete, sehe ich mein eigenes Leben. Seine wunderbaren Taten verwirklichen sich auch in meinem Leben. Und ich weiß, dass es dann Gottes Wirken ist. Ich bin mir bewusst, dass alles Verstehen Gottes über mich hinausgeht. Deshalb nähere ich mich Ihm in großer Ehrfurcht mit der Frage: Warum erkennen Ihn heute nicht mehr Menschen tiefer in ihrem Leben? Und ich frage mich selber: Wie kann ich noch mehr Menschen erreichen mit Seiner Liebe?

Was ist für Sie der Kern des Anliegens Jesu? Wie wäre es zu realisieren?
Jesu zentrales Anliegen ist das Reich Gottes für alle Menschen. Er lädt uns ein, dass wir die Augen aufmachen, um zu sehen, dass Sein Reich schon angefangen hat unter uns, wenn wir den „Gott-unteruns“ erkennen und nach der „Verfassung“, der Frohen Botschaft des Reiches Gottes leben: einem Reich des Friedens, der Gerechtigkeit, der Wahrheit, Barmherzigkeit und Liebe. Ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, Jesu Anliegen verkörpert sich zum Teil in den Menschenrechtserklärungen der UNO, in den Friedensbewegungen, im Kampf gegen Hunger und Elend in der Welt und für die Bewahrung der Schöpfung ...

Beten Sie mit Jesus oder auch zu ihm?
Mein Beten ist: „mit und in Jesus sein“. Im Gebet versetze ich mich bewusst in Gottes liebende Gegenwart. Gott zeigt sich mir durch Jesus als Gott Jahwe – „Ich bin da“ als „Gott mit uns“, wie er sich Moses geoffenbart hat. Gottes Geist durchdringt alles Sein – auch mein Wesen. Manchmal fallen mir beim Beten Lösungen zu schwierigen Problemen ein. Und manchmal sage ich Dinge, die ich vorher noch nie gedacht habe, die aber gerade in dieser Situation wichtig sind.

Würden Sie zu den Zehn Geboten noch ein elftes hinzufügen, und welches?
Nein. Für mich sind die Zehn Gebote die Koordinaten für alles menschliche Leben. Dabei gestehe ich den Nicht-Gläubigen ihr Recht zu, nicht an Gott zu glauben. Aber ab dem Vierten Gebot ist für die Menschheit Verbindlichkeit angesagt. In welcher Form auch die Gebote formuliert werden könnten: Wichtig ist mir, dass die Menschen in Freiheit spüren, dass wir diese Lebensregeln für unser Zusammenleben brauchen und dass wir uns damit nicht einem „Herrschergott“ unterwerfen oder ihm mit der Erfüllung der Gebote einen Gefallen tun. Die Inkas hatten drei Gebote des Zusammenlebens: Nicht lügen. Nicht stehlen. Und nicht faul sein. Dazu kam als eine Art Gebot: ein gutes Leben (für alle)! Ich denke, dass auch die Zehn Gebote als Gebote zu einem „guten Leben“ zusammengefasst werden können. Jesus hat sie auf den Punkt gebracht, wenn er die Tora zitiert: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ (Lev 19,18) Und wenn er sagt: „Mein Gebot ist, dass ihr einander liebt.“ (Joh 15)

Darf ich Sie nach Ihrem Traum fragen: Neben wem möchten Sie einmal an der himmlischen Hochzeitstafel sitzen?
Wenn man liebt, möchte man neben allen und mit allen, die man liebt, am Tisch sitzen! Aber zunächst möchte ich weiter an vielen himmlischen Hochzeitstafeln auf Erden teilnehmen, in denen Arme und Reiche beieinandersitzen und miteinander die Liebe teilen. Wir tafeln in unserer Armengemeinde CRISTO VIVE gerne. Besonders sonntags nach dem Gemeindegottesdienst können sich Arme und Reiche, oft Menschen verschiedener Nationen, miteinander an den Tisch setzen. Dabei wird das einfachste Essen zu einem köstlichen Schmaus, den alle von Herzen genießen.

Was ist Ihnen, alles in allem genommen, die Hauptsache im Leben?
Jene unendliche Energie aus dem Herzen Gottes, aus der ich in jedem Augenblick meines Lebens schöpfen möchte: die Liebe. Ich möchte, dass alle die vielen Menschen, die ich liebe und denen ich so vieles verdanke, in Fülle aus der Liebe Gottes leben. Ich träume ähnlich wie Martin Luther King oder wie die Neue Verfassung Boliviens einen Traum: „Ein gutes Leben für alle.“ Für Arme und Reiche, nicht nur in Bolivien. Sondern in unserer ganzen Welt.

Was bedeutet das für Sie: einfach leben?
Vor allem: Lieben! Liebe ist das höchste Glück. Ich möchte so leben, dass alle, die mit mir und um mich herum leben, spüren, dass wir einander lieben. Die Bedürfnisse eines jeden können verschieden sein. Aber ich möchte nicht zu viel verbrauchen, was anderen fehlen könnte. Ich bekomme viele schöne Geschenke und freue mich, wenn ich sie weiter verschenken kann. Ich genieße die Sonnenaufgänge über der Gebirgskette der Anden, freue mich über das Wachsen der Blumen und Bäume vor meinem Fenster, über den Klang der Musik und der Poesie und ein Glas köstlichen Weines ...

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