Zorn kennt jeder
Leser haben mich auf diese Stelle aufmerksam gemacht, und sie meinten, das sei doch eine Überforderung. Demnach würden sie alle in die Hölle kommen. Denn Zorn kennt doch jeder von uns. Oft ist es doch auch berechtigt, dem anderen gegenüber zornig zu sein. Und im Ärger sagen wir manchmal solche Schimpfworte wie „Dummkopf“ oder „Narr“. Und auch zur Zeit Jesu hätte kein noch so strenger jüdischer Rabbi deswegen ein Gericht bemüht. Ist also Jesus ein Rigorist, der uns mit seiner Verschärfung des alttestamentlichen Gebotes überfordert? Müssten wir nach Jesu Wort letztlich alle in der Hölle landen?
Das Gebot als Bild verstehen
Das ist sicherlich nicht der Sinn der Worte Jesu. Jesus will mit seinen Worten immer provozieren. Und diese Provokation geht für mich in zwei Richtungen. Die eine ist: Gib dich nicht zufrieden mit dem äußeren Gebot „Du sollst nicht töten!“. Im Beichtstuhl habe ich oft gehört: „Ich habe niemanden umgebracht. Was soll ich denn eigentlich beichten?“ Menschen fühlen sich schon gerechtfertigt, wenn sie niemanden umbringen. Jesus will uns dazu herausfordern, dass wir das Gebot verinnerlichen und uns fragen, wo wir mit unseren Gedanken dazu beitragen, jemanden zu töten. Wir sprechen auch von Rufmord. Wenn wir einem Menschen ein bestimmtes Bild umhängen – wie: Der ist kriminell, korrupt, ein Lügner – , können wir ihn töten. Zumindest schaden wir ihm. Jesus will uns also sensibilisieren, sodass wir unsere Gesinnung anderen Menschen gegenüber prüfen. Aber er ist sicher kein Jurist, der uns für jedes Gefühl gleich mit der Höchststrafe bedenkt und in die Hölle schickt. Das sind bildhafte Ausdrücke, die wir in ihrer Bildhaftigkeit stehen lassen müssen.
Die Würde der anderen
Die zweite Richtung ist: Jesus will die Würde der Person und ihr Recht, zur menschlichen Gemeinschaft zu gehören, schützen. Ihm geht es nicht um Bestrafung, sondern um den Schutz des Menschen. Daher mahnt er uns mit solchen provozierenden Bildern, damit wir sensibel mit der Würde des anderen umgehen. Wir sollen ihn durch unser Reden nicht leichtfertig aus der menschlichen Gemeinschaft ausschließen. Dass wir einem Menschen gegenüber zornig werden können, das ist normal. Der Zorn hat immer auch einen Sinn. Wir sollen mit dem Zorn reden und ihn als Energiequelle nutzen, um uns vom anderen abzugrenzen oder uns vor ihm zu schützen. Aber wenn wir dem Zorn zu viel Raum geben, dann kann er uns innerlich auffressen. Dann tut er uns nicht gut. Und der dauerhafte Zorn wird sich auch ausdrücken in verletzenden Worten oder Handlungen. Und so werden wir dem anderen schaden. Jesus will uns mit diesen Worten also keine Angst machen, sondern die Augen für die Würde jedes einzelnen Menschen öffnen.