Wie wir leben wollenHingabe – mit dem ganzen Herzen dabei

Wir sagen von einem Menschen, dass er mit Hingabe seinen Beruf ausübt. Von einem Mitbruder erzählte man sich, mit welcher Hingabe er eine Banane geschält hat, um sie noch mehr genießen zu können. Die Banane war damals etwas Seltenes und Kostbares. Oder da ist eine Frau, die mit Hingabe den Tisch deckt. Sie legt ihre ganze Liebe in das, was sie tut. Sie versteht das als Dienst für ihre Familie oder für die Gäste, die sie erwartet. Hingabe hat also immer mit Liebe zu tun.

Hingabe: Mit dem ganzen Herzen dabei
Wir werden durchlässig für etwas, das größer ist als wir.© Artem Furman - fotolia.com

Woran mein Herz hängt

Wenn ich mich ganz meiner Arbeit hingebe, dann liebe ich meine Arbeit, dann gehe ich in meiner Arbeit auf. Ich hänge mein ganzes Herz an das, was ich tue. Hingabe meint also immer auch, dass ich ganz in dem bin, was ich tue. Ich bin nicht innerlich geteilt. Ich mache meine Arbeit nicht nebenbei. Ich gebe mich ganz dem hin, was ich gerade tue. Das muss aber nicht immer das Tun sein. Ich kann mich auch dem Schauen hingeben, wenn ich eine schöne Landschaft betrachte, oder wenn ich im Museum vor einem Bild stehe. Ich gebe mich dem Hören hin, wenn ich die Musik nicht nur distanziert höre, sondern sie in mich eindringen lasse und ganz beim Hören bin.

Liebe als Höhepunkt

Den Höhepunkt der Hingabe stellt die Liebe dar. Wenn Mann und Frau in der Sexualität eins werden, dann geben sie sich ganz einander hin, lassen ihr Ego los. Sie gehen ganz im anderen auf, sie verschenken sich ganz und gar dem anderen, ohne etwas für sich zurückzubehalten. In diesem Sinn hat Jesus auch die Freundesliebe verstanden: „Es gibt keine größere Liebe, als wenn jemand sein Leben hingibt für seine Freunde“ (Joh 15,13). Im Griechischen steht hier das Wort „tithemai“. Man könnte es auch mit „wer sein Leben einsetzt, aufs Spiel setzt“ übersetzen. Der Gipfel der Hingabe ist also die Hingabe des eigenen Lebens. So haben auch die Griechen die Freundesliebe verstanden.

Einheit von Leben und Arbeit

Der hl. Benedikt spricht von „ora et labora“, von Gebet und Arbeit. Er meint damit, dass es beim Gebet wie bei der Arbeit um Hingabe geht. Hingabe meint: frei werden vom eigenen Ego, sich auf Gott einlassen, sich Gott hingeben, sich Gott übergeben. Und Arbeit meint das Gleiche: Ich gebe mich ganz meinem Tun hin, ganz den Menschen hin, für die ich arbeite. Das gilt etwa für ein Kundengespräch oder ein Beratungsgespräch. Ich lasse mich ganz auf diesen Menschen ein. Diese Hingabe an die Arbeit und für die Menschen, auf die ich mich einlasse, liegt für Benedikt auf der gleichen Ebene wie die Hingabe an Gott im Gebet. Wenn ich mich der Arbeit hingebe, dann wird meine Arbeit zum Gebet. Dann wird mein ganzes Leben Hingabe und Gebet. Hingabe hat immer mit dem Freiwerden vom Ego, mit dem Loslassen des eigenen Ego zu tun. In der Hingabe vergesse ich mich selbst und bin ganz bei dem, was ich tue, bei dem, mit dem ich spreche, bei dem, zu dem ich bete.

Partnerschaft und Familie

Früher hat man Hingabe mit „Aufopfern“ beschrieben. Doch heute sind wir eher skeptisch, wenn jemand sich völlig für die Familie aufopfert. Wir verbinden damit ein Überspringen der eigenen Bedürfnisse. Und manchmal kann hinter diesem Aufopfern auch ein Anspruch stehen: Ich gebe alles für Euch, aber dann müsst Ihr mir auch etwas zurückgeben. Heute zählt die Selbstverwirklichung höher als das Sich-Aufopfern. Aber dennoch kommt keine Beziehung ohne Hingabe aus. Wenn beide Partner nur darum kreisen, wie sie sich selbst verwirklichen können, wenn sie jeden Wunsch des Partners danach befragen, ob er mit den eigenen Bedürfnissen übereinstimmt, dann führt das – wie der Paartherapeut Hans Jellouschek ausgeführt hat – zur „Tyrannei der Authentizität“. Und Jörg Willi, ein anderer Paartherapeut, meint: Wenn ich die Partnerschaft nur als Bedürfnisbefriedigung verstehe, wird sie zur gegenseitigen Ausbeutung. Es ist also wichtig, dass wir die beiden Pole Selbstverwirklichung und Hingabe in ein gutes Gleichgewicht bringen. Wenn ein Pol absolut gesetzt wird, dann führt es entweder zum „Egoismus zu zweit“ oder zur Selbstaufgabe. Hingabe ist aber etwas anderes als Selbstaufgabe. Jellouschek sagt in einer Beschreibung der „Kunst als Paar zu leben“ zu Recht: „Der Mensch findet seine höchste Entfaltung nur in der Selbst-Hingabe. Wer ängstlich an sich selber festhält, geht sich selber am radikalsten verloren. Wer sich selbst hingibt, findet zu seiner Fülle.“

Durchlässig für Gott

Um Hingabe geht es auch in der Beziehung zu Gott. Hingabe heißt, dass ich mich ganz und gar auf Gott einlasse. Diese Hingabe erleben wir aber nicht nur gegenüber Gott. Wir geben uns auch einer Musik hin. Wir spielen auf der Geige oder am Klavier und vergessen dabei, wie wir auf andere wirken. Wir werden durchlässig für etwas, das größer ist als wir. Wir spüren den Unterschied zwischen einem Sänger, der technisch perfekt singt, und einem, der durchlässig ist für die Musik, durch den hindurch „ES“ singt. Da werden wir als Zuhörer ganz anders angerührt. Da klingt in unserer Seele etwas wider. Auch in der Spiritualität gibt es diesen Unterschied. Da gibt es Menschen, die eine konsequente Askese leben oder täglich zwei Stunden meditieren. Aber sie tun es vor allem, damit sie sich als spirituelle Menschen fühlen. Sie kreisen letztlich auch dabei um das eigene Ego. Und es gibt Menschen, die sich in ihrer Ohnmacht in Gott hinein ergeben. Sie berühren wirklich Gott. Sie vergessen sich selbst und ihre Wirkung auf andere. Ihnen geht es nur um Gott. Und gerade so fühlen sie sich ganz präsent, frei, erfüllt, lebendig, voller Liebe. Das spüren dann auch andere, die mit ihnen zu tun haben.

Frei vom Ego

Letztlich geht es in der Hingabe darum, was Jesus mit der Selbstverleugnung meint: frei zu werden von der Herrschaft des Ego, das alles auf sich bezieht und immer nach dem eigenen Nutzen und Vorteil fragt. Jesus sagt: „Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen und um des Evangeliums willen verliert, wird es retten“ (Mk 8,34 f). Sich selbst verleugnen meint: Nein sagen zu den ständigen Forderungen des Ego und sich auf den Weg einlassen, den uns das eigene Herz weist. Hin- gabe heißt: sein Leben um Jesu willen verlieren und es nicht retten wollen. Im Griechischen steht hier „psyche“ = Seele, und „sozein“ = retten, bewahren. Wer seine Seele und festhalten will, wer sich nicht loslassen will, der verliert seine Seele. Wir gewinnen unsere Seele nur, wenn wir uns loslassen, wenn wir uns hingeben.

In Liebe verwandeln

Für mich hat Hingabe noch eine andere Dimension. Hingabe ist die Kunst, das, was mir von außen widerfährt, in einen Akt der Liebe zu verwandeln. Ein Beispiel: Als ich meine Mutter einmal fragte, wie sie im Alter mit ihren Krankheiten und Beschwerden umgehe, antwortete sie ganz fröhlich: „Ach, das opfere ich für meine Kinder und Enkelkinder auf.“ Sie hat sich die Altersbeschwerden nicht ausgesucht. Die sind ihr widerfahren. Aber sie hat sie in einen Akt der Hingabe verwandelt. Die Kinder und Enkelkinder haben das gespürt. Von meiner Mutter ging Liebe aus. Deshalb haben ihre Enkel sie auch gerne besucht. Es gibt andere ältere Menschen, die ständig um ihre Krankheit kreisen und jedem Besucher ein schlechtes Gewissen machen, allein deshalb, weil er gesund ist. Von solchen Menschen geht Unzufriedenheit aus. Das war letztlich auch die Kunst Jesu: das, was ihm am Kreuz widerfahren ist, in einen Akt der Hingabe und Liebe zu verwandeln. Jesus hat sich den Tod nicht ausgesucht, er ist ihm von außen widerfahren. Dennoch sagt Jesus von sich: „Deshalb liebt mich der Vater, weil ich mein Leben hingebe, um es wieder zu nehmen“ (Joh 10,17). Jesus hat den gewaltsamen Tod, den er auf sich zukommen sah, in einen Akt der Liebe und Hingabe verwandelt. Wer sich hingibt, gewinnt das Leben und sein Leben bringt reiche Frucht. Und diese Frucht wird zum Segen nicht nur für andere, sondern auch für ihn selbst.   

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