Überfordert
Die Situation überfordert mich ein wenig. Denn ich soll: nichts tun. Nichts tun hieß für mich bislang gemütlich auf dem Sofa zu liegen und mit meinem Mann zu plaudern, abends, wenn die Kinder im Bett liegen. Oder zu lesen, Musik zu hören, Fernsehen zu schauen.
Aber ich bin nicht zu Hause, sondern in einem Kloster. Genauer gesagt, in einem schlauchförmigen Gästezimmer, fünf mal drei Meter groß. Grünliches Licht fällt durch die Blätter einer Kastanie durch das Fenster, streift ein schmales Bett, einen Holzschrank, ein Kreuz an der weißen Wand.
„Was macht man, wenn man nichts tun soll?“, frage ich mich ratlos und tigere durch den Raum. Nicht lesen. Nicht reden. Das Handy nicht anmachen. Nicht fernsehen. Nicht im Internet surfen. „Das“, denke ich, „werden drei sehr, sehr anstrengende Tage.“
Mühsames Nichtstun
Ich bin gekommen, um zur Ruhe zu kommen, zu schweigen und in mich zu gehen. Dinge, die mir zugegebenermaßen fremd sind, weil sie in mein Leben zwischen Arbeit, Familie, Freunde und Haushalt einfach nicht passen. Dinge, für die das Kloster, in dem ich einige Tage verbringe, Raum bieten soll.
Kloster Drübeck ist ein ehemaliges Benediktinerinnenkloster am Nordrand des Harzes nahe Wernigerode. Heute beherbergt es ein evangelisches Zentrum. Eingebettet am Rand eines Dorfes zwischen Feldern, in denen sich das Korn wiegt und der Raps leuchtet, soll es Rastlosen wie mir Ruhe bieten. Während sogenannter Einkehrtage können Besucher, so kündigt es die Website des Anwesens an, „die in klösterlichen Gemeinschaften auch heute noch geübte Tradition des freiwilligen und erholsamen Schweigens fortführen“.
Was so etwas bringt? Pfarrerin Brigitte Seifert zuckt mit den Achseln: „Das weiß man vorher nie.“
Brigitte Seifert, eine zierliche Frau Mitte 50 mit kurz geschnittenem grau-braunen Haar und roter Brille, begleitet gemeinsam mit ihrer Kollegin Irene Sonnabend die Einkehrtage. „Schweigen“, gibt sie mir bei meiner Ankunft mit auf den Weg, „bedeutet zunächst einmal ein Verzicht auf Alltagskonventionen.“ Er könne sehr erholsam sein, wenn man nicht auf seine Außenwirkung angewiesen sei, sondern sich einfach mal auf sein inneres Empfinden konzentrieren könne.
Mein Inneres rebelliert. Gedanken flattern umher, Rastlosigkeit überkommt mich. Von 100 auf 0, das klappt nicht auf Kommando. Das geht den meisten Gästen so, deshalb bieten die beiden Pfarrerinnen eine Art Rahmenprogramm, das die Einkehrtage strukturiert: regelmäßige Gottesdienste, Meditationssitzungen, Körpererfahrungen im Garten. Dazu gemeinsame Mahlzeiten und, bei Bedarf, „Gesprächsinseln“, bei denen man die Schweigezeit kurz unterbricht, um Sorgen zu besprechen oder Erfahrungen auszutauschen.
Eine Kirchenglocke läutet, Zeit für die Mittagsandacht. Gleich neben dem Gästehaus strecken sich die zwei achteckigen Türme der Klosterkirche St. Vitus dem Himmel entgegen. „Herr“, betet Birgitte Seifert, „schenke uns Ruhe für unsere unruhigen Herzen.“
In der Tat wirkt das Gotteshaus beruhigend. Schlicht, fast schmucklos ist das romanische Innere: steinerner Boden, Rundbögen, die auf Säulen und Pfeilern ruhen, hölzerne Balken über weiß getünchten Wänden. Zufällig besucht an diesem Tag eine Chorgruppe die Kirche, die Tenöre der Männer schallen durch das helle Kirchenschiff.
Nach dem Gottesdienst geht es zum Essen. Zu meinem Erstaunen genieße ich die Mahlzeit im Stillen. Keine Organisationsgespräche mit meinem Mann, kein Kind, das am Essen rumnörgelt, kein Smalltalk mit anderen Gästen. Ich lasse meinen Blick zu den anderen Besuchern schweifen. Meist sind es Frauen, die an den Schweigetagen teilnehmen, vielfach aus sozialen, pädagogischen oder therapeutischen Berufen, die Kraft tanken müssen. Oft Menschen über 50, die an einem Scheideweg stehen oder eine Lebenskrise bewältigen müssen: den Auszug der Kinder, eine Trennung vom Partner, ein Jobverlust.
Loslassen ist schwer
Erholsam ist die erste Nacht im Kloster allerdings nur bedingt. Ewig liege ich wach und grüble: wie ich in der nächsten Woche den Schließtag in der Kita organisieren soll, welche Abgabetermine im Job anstehen, dass die Steuerberaterin und ein Riesenhaufen Nähwäsche zu Hause auf mich warten.
Gerädert wache ich am nächsten Tag auf. Das soll also erholsam sein?
„Nein“, sagt Brigitte Seifert energisch. „Die Wege nach innen können sehr laut sein. Den Alltagsstress loslassen ist für viele sehr schwer.“ Vielleicht hilft dagegen Meditation.
Leibgebete
Also meditiere ich. Hockend in einem stillen Raum – mit wenig Erfolg. Der Rücken zwickt, das Parfüm einer anderen Teilnehmerin stört, die Gedanken gehen auf Wanderschaft.
Dafür gefallen mir die „Leibgebete“ im Garten, Turnübungen, die ein Kreuz formen. Vor mir steht Irene Sonnabend im bordeauxroten Cordgewand und macht vor, wie es geht: Arme nach oben strecken, dann zur Seite, schließlich zu den Füßen. Dazu gibt sie Anweisungen. „Spür die Dehnung!“, sagt sie. Oder: „Fühle das Gras unter deinen Füßen!“
Anweisungen und Bewegung in der Natur funktionieren bei mir. Ich soll einen Spaziergang der Sinne unternehmen. An Nelken und Rosmarin schnuppern, feuchte Blätter befühlen, in den Himmel blinzeln, dem Blöken von Schafen lauschen, auf einem Blatt Pfefferminze herumkauen. Ganz von selbst beruhigen sich meine Gedanken. Nur abends, in meiner kargen Kammer, werde ich ein wenig traurig. Das Pfefferminzblatt hat mich an meine Kindheit im Garten meiner Großeltern erinnert. Beide sind innerhalb der letzten fünf Jahre verstorben.
„Trauer“, erklärt mir Brigitte Seifert, „ist eine Empfindung, die das Schweigen auslösen kann.“ Aber auch Wut, Kreativität oder Aufbruchsstimmung. „Man weiß nie, ob und was beim Menschen durch das Schweigen passiert, was in ihm angestoßen wird“, resümiert sie.
Am dritten Tag meines Klosteraufenthalts kommt mir das Schweigen fast schon natürlich vor. Am Abend ist es wieder Zeit zu reden. „Friede sei mit dir“, wünsche ich einer anderen Teilnehmerin. Die Pfarrerin hatte uns den Segensgruß an die Hand gegeben, damit der erste Satz nach Tagen des Schweigens nicht zu profan ist.
Abends im Bett denke ich nach. Schweigen ist nicht das Problem. Das Problem ist, sich nicht von ständiger Beschallung, ewiger Beschäftigung abhängig zu machen. Ich beschließe, das Handy noch auszulassen und die Zeitschrift im Koffer zu ignorieren. Noch einen Abend der Stille bevor der Alltag mich wieder hat.