Keine Lust auf Stress
„Wann hast du eigentlich das letzte Mal Urlaub gemacht?“ Meine Freundin hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Es musste Jahre her sein. Ich war nicht ohne Grund so fertig. Urlaub ist für Freiberufler eher etwas Ungewöhnliches. Man tut ja schließlich genau, was man will, ist sein eigener Chef, die Arbeit macht Spaß, und warum soll man da eine Auszeit nehmen?
Doch ihre Frage ließ mich nicht mehr los. Das Wort URLAUB breitete sich von Tag zu Tag immer mehr in meinem Kopf aus: Ich kam nicht mehr um die Erkenntnis herum: Ich hatte ihn nötig. Gleichzeitig wusste ich gar nicht mehr, wie Urlaub geht. Ich hatte nicht die geringste Lust auf anstrengende Reisen, horrende Geldausgaben, auf Warteschlangen am Ticketschalter und Touristenströme.
Worauf hatte ich eigentlich Lust? Was bedeutete Urlaub für mich? Am ehesten das Gegenteil von Alltag, stellte ich mir vor. Nichts planen. Nichts vorhaben. Bummeln, trödeln, träumen, in den Tag hineinleben. Keine Verantwortung für gar nichts übernehmen. Aber würde mir das gelingen? Ich war skeptisch. Trotzdem wagte ich es.
Warum eigentlich nicht?
Alles, was mich im Alltag anstrengte, sollte im Urlaub nichts zu suchen haben: Handy, Telefon, Uhr, Internet, E-Mails, Computer, Terminkalender. Ausschalten, zuklappen und ab in die Schublade damit. Und warum sollte das nicht zu Hause gehen? Man muss ja schließlich nicht wegfahren, wenn man keine Lust dazu hat!
Ich beantragte zehn Tage Urlaub bei meiner Chefin, also bei mir selbst, genehmigte sie mir augenblicklich, durchforstete meinen Kalender, fand keine Lücke und schob die Termine so lange hin und her, bis ich mir zehn zusammenhängende leere Tage gebastelt hatte. Ich war stolz auf mich.
Dann richtete ich auf meinem Mail- Account eine Abwesenheitsnotiz ein, besprach meinen Anrufbeantworter neu und gab im Freundeskreis meine Urlaubszeit bekannt. „Wo fährst du hin?“, fragten sie. „Was machst du?“
„Ich weiß noch nicht, wohin“, entgegnete ich. „Und machen muss ich nichts.“
Das gefiel mir so gut, dass ich mit einem Stift ganz groß „ICH MUSS NICHTS – ICH DARF ALLES“ auf ein Blatt Papier schrieb und es an meine Tür hängte. Genau das sollte mein Motto der kommenden zehn Tage werden.
Ich gebe zu, dass mir mulmig zumute war. Ohne Telefon und Mails befürchtete ich mindestens schreckliche Einsamkeitszustände, wenn nicht Depressionsanfälle.
Mein Rucksack ist leicht
Und dann der erste Urlaubstag. Prompt bin ich um 6 Uhr wach und überlege sofort, was heute auf dem Programm steht. Bis mir einfällt: Nichts. Ich habe ja Urlaub. Etwas ratlos stehe ich auf, schaue mich um und sehe nur Arbeit. Ich trinke einen Kaffee und frage mich, was ich will. Raus, ist die Antwort.
Der Rucksack ist leicht: Wasserflasche, Klappstulle, Tagebuch, Stift und Geldbörse. Den ganzen Vormittag über sitze ich an der Spree und schaue aufs Wasser. Immer, wenn mir einfällt, was ich meine, dringend erledigen zu müssen, schreibe ich es auf eine Seite meines Tagebuches, reiße diese anschließend heraus und werfe sie in den Fluss. Es tut gut, den davonschwimmenden Schnipseln nachzuschauen. Sich vorzustellen, wie das Papier sich irgendwann zersetzen und auf den Grund sinken wird. Und mit einem Mal sind Gedichte in meinem Kopf. Gute, runde Worte. Ich schreibe sie auf.
Im Fluss der Zeit
Irgendwann gehe ich einen Eisbecher essen. „Das dauert aber fünf Minuten“, sagt die Kellnerin. „Ich habe Zeit“, entgegne ich. „Ich bin im Urlaub.“ Und plötzlich durchströmt mich ein tiefes Glück über meine eigenen Worte. Später steige ich in eine S-Bahn, ohne zu gucken wohin sie fährt, steige aus, wo ich noch nie ausgestiegen bin, entdecke einen afrikanischen Lebensmittelmarkt und tauche in berauschende Gewürzdüfte. Betrachte Gemüse, von dem ich den Namen nicht kenne. Am nächsten Tag komme ich an einem Puppentheater vorbei, gehe in die Kindervorstellung „Hans im Glück“, stromere danach endlos durch die Stadt, durch fremde Straßen, sehe die Menschen an und staune, wie schön sie sind.
Ab dem dritten Tag weiß ich nicht mehr, welcher Wochentag gerade ist. Eine Hülle von Zeitlosigkeit umgibt mich. Wenn ich Hunger bekomme, esse ich, wenn ich müde werde, lege ich mich schlafen. Ich tue nur noch, wozu ich Lust habe. Einen Tag verbringe ich im Bett mit meinen Lieblingsbüchern. An einem anderen Tag fahre ich mit dem Fahrrad bis an den Stadtrand, laufe über Felder, alle Herbstfarben sammeln sich in meinen Augen, weben einen bunten, sanften Teppich. Auf einem Feld stehen Rehe, heben kurz den Kopf, als ich vorbeigehe, dann wackeln sie mit den Ohren und grasen weiter. Ich finde einen See. Die Wellen schwappen leicht ans Ufer. Ich weiß nicht mehr, wo ich bin. Sehe Fischschwärme im sonnendurchfluteten Wasser stehen und schaue ihnen zu. Schreibe Worte nieder, über die Fische, über mich, über das Wasser, über die Luft. Oder ich schreibe nichts. Tagelang. Ich bleibe überall so lange, wie es mir passt. Betrachte Gesichter, eine Leuchtreklame, einen Stein. Bleibe einfach auf dem Bürgersteig stehen und schaue. Zwischen den Ritzen der Gehwegplatten leben Ameisen. In einem Park stehe ich plötzlich vor einem Igel. Eine Nacht verbringe ich in einer Pension, weil ich keine Lust habe, nach Hause zu fahren. Eine andere bei einer Freundin auf der Couch. Die Tage verweben sich, gehen ineinander über. Es wird still in mir. Ich gehe langsamer. Ich atme langsamer. Ich denke langsamer. Ich fühle die Zeit in mir.
Etwas sackt in mir
Manchmal taucht tatsächlich so etwas wie Langeweile auf. Dann sage ich mir: Das ist doch mal etwas Neues. Und erlaube mir, gelangweilt zu sein. Überhaupt erlaube ich mir alles: fremden Menschen ins Gesicht zu sehen, jemandem zuzulächeln, Spielzeugläden zu betreten, Spieluhren aufzuziehen, durch zwanzig Kaleidoskope zu schauen, keins davon zu kaufen, jeden Tag Eis zu essen, die Füße ins kalte Septemberwasser zu halten, durch unbekannte Straßen zu ziehen, gemächlich, Schritt für Schritt …
In dieser ganzen Zeit sackt etwas in mir. Immer ein kleines Stück weiter. Ich glaube, das bin ich, die wieder hineinsacke in meinen Körper, in meinen eigenen Rhythmus, in mich selbst.
Ich hatte nicht gewusst, wie einfach es ist, Urlaub zu machen. Computer, Uhr, Handy und Kalender vermisste ich nicht ein einziges Mal. Ich bin in mir angekommen. Und das Motto „Ich muss nichts – ich darf alles“ versuche ich mitzunehmen in meinen Alltag.
Übrigens habe ich gerade erfahren, dass der gesetzliche Mindesturlaub für Menschen meines Alters 30 Tage im Jahr beträgt. Da muss ich doch gleich mal mit meiner Chefin reden, wann ich die restlichen 20 Tage nehme.