Freundschaft mit sich selbst finden

Überall, wo wir hingehen, nehmen wir uns mit, und auch wir selber brauchen Zuwendung.

Ein Geschenk, das Pflege braucht

Freundschaft ist ein Geschenk, das Pflege, Liebe und Aufmerksamkeit braucht. Das Leben verzeiht kein Desinteresse, schon gar nicht in solch wichtigen Dingen wie Freundschaften.

Freundschaften sind für mich wie ein schöner Garten, der uns Nahrung, Ruhe, Heimat und somit Kraft schenkt. Doch manchmal zieht ein Unwetter über unseren Garten hinweg. Ein Sturm fegt durch die Bäume bis sie brechen. Starkregen setzt die Beete unter Wasser, sodass das Gemüse verfault. Hagel zerstört das Obst. Der Garten wird unansehnlich und verkommt von einer Kraftquelle zu einem Kraftfresser. Ich denke, die Stürme, Hagelschauer und Starkregen der Freundschaft heißen Ärger, Missverständnisse, Fehlverhalten, Grenzüberschreitungen oder Enttäuschungen. Sie passieren, denn wir sind alle nur Menschen. Das ist nicht abwertend gemeint, sondern liebevoll, denn durch dieses ‚Nur‘ öffnen wir uns und unseren Freunden eine wunderbare Tür, die Tür der Versöhnung und des wiedergefundenen Friedens mit einem alten Freund.

Wenn wir also nach einem Unwetter unseren Garten der Freundschaft wieder in Ordnung bringen, dann müssen wir uns engagieren, aktiv werden, für neue Klarheit und Gemeinschaft sorgen, sodass der Garten wieder erblühen kann. Meine Erfahrung ist, dass ein Unwetter eine Freundschaft durchaus festigen kann, aber nur, wenn wir die Herausforderung auch annehmen.

Den meisten Menschen fällt es leichter, über die Freundschaft mit anderen Menschen nachzudenken und zu sprechen als über die wohl wichtigste Freundschaft im Leben: Die Freundschaft mit uns selbst. Keinen anderen Menschen kennen wir so gut wie uns selbst, keinem anderen sind wir so nahe. Keinem anderen können wir so wenig vormachen wie uns selbst. Überall, wo wir hingehen, nehmen wir uns mit, eine Flucht ist unmöglich.

Ein innerer Dialog

Die Freundschaft mit uns selbst beginnt im inneren Dialog mit uns selbst. Wenn es selbstverständlich ist, mit unseren Freunden zu sprechen, warum dann nicht auch mit uns selbst? Doch wie soll das gehen? Das Gespräch mit uns selbst beginnt da, wo alle Ablenkungen aufhören, wo uns kein Fernsehen, Radio, Internet, Handy etc., auch keine anderen Menschen ablenken können. Es beginnt an Orten der Ungestörtheit, der Stille, der konstruktiven Einsamkeit, der Kontemplation – an Orten der Kraft. Diese können überall sein, in der Natur, in bestimmten Gebäuden. Meine Orte sind in zwei bestimmten Kirchen, in meinem Schreibzimmer zu Hause, auf der Insel Pfalzgrafenstein bei Kaub mitten im Rhein: ein Ort mitten im Fluss des Lebens. Es sind Orte, zu denen wir bewusst hingehen können, um uns mit uns selbst (wieder) in Berührung zu bringen.

Ja sagen zu mir selber

Ich denke, dass die Freundschaft mit uns selbst sich in ihren Inhalten und in ihrer Art nicht wesentlich von der Freundschaft mit anderen Menschen unterscheidet, nur dass die Bezüge etwas anders gesetzt sind. Stehen wir zu uns selbst, leben wir also in innerer Zuverlässigkeit? Können wir alleine sein und diese Gemeinschaft mit uns selbst als erfüllend und kraftspendend erleben? Können wir – ohne übertriebenen Egoismus oder Narzissmus – wirklich ja zu uns selbst sagen, trotz oder vielleicht gerade auch wegen all unserer Schwächen und Fehler? Gibt es genügend Zuneigung in uns für uns selbst oder sind innere Kritiker und Richter so stark und unbarmherzig, dass wir am liebsten vor uns selbst weglaufen würden? Sind wir uns selbst ein guter, konstruktiver oder ein strafender, zerstörender Kritiker? Können wir unsere Fehler zugeben, sie mit uns selbst klären und schließlich verzeihen?

Zusammenklang des Lebens

Freundschaft mit uns selbst ist wie ein gelungener Zusammenklang der drei Dimensionen unseres Lebens: der Vergangenheit, der Zukunft und der Gegenwart. Jede stellt ihre besonderen Anforderungen an uns und in ihrem Einklang entstehen Glück und Lebensfreude.

Frieden mit der Vergangenheit heißt, in Frieden mit uns selbst zu sein. Es ist ein Frieden, der unsere eigenen Fehler, das Fehlverhalten anderer Menschen uns gegenüber sowie erlittene Schicksalsschläge miteinschließt. Es ist ein Frieden durch aktive Versöhnung. Ein Frieden, der neue Antworten auf alte Probleme und Kraftfresser schenkt. Ein Frieden also, der als eigenverantwortliche Unabhängigkeitserklärung in Form eines (manchmal einseitigen) Friedensvertrages daherkommt, der uns somit Kraft und Souveränität über die Umstände unseres Lebens schenkt.

Kennst du dein ‚Wofür‘?

Freundschaft mit uns selbst braucht eine Richtung, eine Zukunft und damit einen Sinn. Sinn für die Zukunft finden wir in der Frage nach dem ‚Wofür?‘. Wofür tun wir, was wir tun? Wofür stehen wir, wofür nicht? Welche Antwort geben wir einer neuen Situation? Wie beantworten wir die immer neuen Fragen, die das Leben uns stellt? Wer sein ‚Wofür‘ kennt, der kann nicht nur die sprichwörtlichen Berge versetzen, der kann auch sich selbst im Spiegel morgens beim Rasieren (oder beim Haarekämmen) gelassen und freudig begegnen. Wahrer Sinn ist aber niemals mit einseitiger Selbstverwirklichung zu verwechseln. Wahrer Sinn entsteht in der Hingabe zu einer Sache und/oder in der Liebe zu einem anderen Menschen. Wir werden als liebende Menschen geboren, aber schwere Erfahrungen können uns verleiten, diese Fähigkeit zu verlernen. Sinn entsteht in der Transzendenz, indem wir über uns hinausgehen, so sagt es uns der berühmte Arzt und Philosoph Viktor Frankl. Denn wer sich selbst finden will, muss andere suchen.

Die Tür zu den drei Freundschaften

Wenn wir in Frieden ja zu unserer Biographie sagen können und unseren Sinn kennen, dann können wir auch unsere Gegenwart freudig und kraftvoll gestalten. Die Freundschaft mit uns selbst wird zur neuen Antwort auf alte innere Sprachlosigkeit, Einsamkeit und Verletzungen.

Die Freundschaft mit uns selbst unterscheidet sich nicht wesentlich von der Freundschaft mit anderen Menschen. Sie ist nur intimer und manchmal fordernder, vor allem wenn eigene Ängste, Unsicherheiten, innere Kritiker und mangelndes Selbstbewusstsein uns belasten. Doch wir sind nicht machtlos, denn wir können durch aktive Versöhnung und Sinnorientierung unser Leben gestalten, also mehr leben und weniger gelebt werden. Und damit die Tür zu den drei Freundschaften aufstoßen, die ich jedem Menschen wünsche: Die Freundschaft mit sich selbst, die Freundschaft mit anderen Menschen und die Freundschaft mit Gott.

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