Als „Phänomen“ bezeichnet man gerne, was man nicht ganz versteht und was nicht so recht ins übliche Bild passt. Anselm Grün nennen viele „ein Phänomen“: Ein berühmter Mensch, der sich in seiner Gemeinschaft ganz selbstverständlich zum Dienst des Toilettenputzens einteilen lässt. Der Verfasser internationaler Bestseller, der auf seine Vortragsreisen nach Brasilien oder China nicht mehr mitnimmt als das, was im Handgepäck Platz hat. Ein Mönch, der nicht nur über Mystik schreibt, sondern auch zu Geld ein ganz rationales Verhältnis hat und mit Aktien handelt. Ein vielbeschäftigter Autor, der mehr Zeit als ins Bücherschreiben in eine umfangreiche Korrespondenz investiert mit den vielen, die sich mit der Bitte um Rat, Trost oder Orientierung täglich an ihn wenden. Ein Priester, der sagt: „Ich muss nicht alle Sünden ja begangen haben, um einem Sünder zu helfen. Aber ich muss darum wissen, dass ich dazu fähig wäre.“
Eine Ausnahmeerscheinung ist Anselm Grün auf jeden Fall: Manager, Mönch und Seelenführer. Wie geht das zusammen? Und: Was ist das Geheimnis der großen Resonanz, die er findet?
Sicher ist es nicht Wellness-Theologie, wie einige argwöhnen. Es stimmt zwar: Wenn man seine Bücher liest, wird man feststellen, dass sich vieles in der Frage konzentriert: „Was der Seele gut tut“. Das meint aber nicht den Lehnstuhl narzisstischer Selbstwohlgefälligkeit, sondern einen nicht immer leichten Weg ins Leben, Aufbruch in eine größere Lebendigkeit und Wahrheit. „Seelenführer“ meint auch nicht, dass er anderen zeigt, „wo es lang geht“. Entscheidend ist für ihn immer, Menschen zu sich selber zu führen. Lebendigkeit, Beziehung zu sich, zu anderen, zur Umwelt, zu Gott: das ist es, was der Seele gut tut: „Entscheidend ist, dass wir zum Leben aufwachen.“ Leben in Fülle – das ist die zentrale Verheißung der Bibel. Nicht ohne Grund ist der Titel der Festschrift zu seinem 70. Geburtstag: „Inspiration für das Leben. Im Dialog mit der Bibel.“
Mönche leben hinter Klostermauern, abseits von der Welt. Bekommen sie deshalb nicht so viel mit von dem, was das Leben eigentlich ist und die Menschen bewegt? Die Antwort Anselm Grüns: „Nur wer bei sich ist, seine eigene Wahrheit anschaut, wird glaubwürdig bei den anderen“. Und: „Ja, wir sind hinter Klostermauern, wir leben aber mit Mitbrüdern zusammen. Und natürlich begegne ich vielen, vielen Menschen etwa in den Vorträgen. Entscheidend ist die Resonanz, also dass es fließt, dass zwischen den Menschen und mir etwas fließt.“ Auch die revoltierenden Studenten in Hongkong haben im Oktober 2014 den Rat dieses Mönchs aus Deutschland gesucht, seine Meinung gehört.
Wenn man sich selber verändert, sagt Grün, wird auch die Welt ein bisschen verändert. Das klingt bescheiden, nimmt sich selbst ernst, aber nicht zu wichtig. Er erläutert: „Die frühen Mönche sind in die Einsamkeit der Wüste gegangen mit dem Anspruch: Wenn ich dort die Dämonen besiege, wenn es dort in der dunklen Ecke ein Stück heller wird, wird es für die ganze Welt heller. Diese Mönche sagen: „Ich stelle mir vor, da ist ein bissiger Hund, der bellt, und weil ich selber ein bissiger Hund bin, gehe ich in die Wüste, damit dieser Hund gezähmt wird. Und dann wird in der Welt ein gefährlicher Hund weniger sein.“ Es geht ihm – als Mönch, als Manager und Seelenführer – eigentlich immer um das gleiche: Um Haltungen, die unser Leben verwandeln können, die Halt geben mitten in den Turbulenzen dieser Zeit und die Zuversicht schenken, dass das Leben lebenswert ist und dass wir in unserem Leben auch ein Segen werden für andere Menschen und so auch diese Welt ein Stück verändern. „Christen müssten erlöster aussehen“, dieses Verdikt Nietzsches ist Anselm Grüns Stachel. Erlösung hat mit heil sein zu tun, mit richtigem Leben hier und jetzt, mit der Erfahrung von Glück, mit „einfach leben“. Dass dies möglich wird, dafür ist er Feuer und Flamme.
„Die Glut unter der Asche“ muss man bei ihm nicht erst suchen. Das spüren die Menschen. Und da liegt auch ein Geheimnis des „Phänomens Anselm Grün“.