einfach leben: Wenn Menschen verletzt wurden, gibt es allerhand Trostsprüche und wohlfeile Ratschläge: Was ist für Sie der schlimmste?
Melanie Wolfers: Der lässig dahingesagte Spruch „Was dich nicht umbringt, macht dich härter.“ Hier wischt jemand „cool“ meine Schmerzen vom Tisch, und das tut noch einmal weh. Und wer diesen Satz zu sich selber sagt, fügt sich selbst erneut eine Verletzung zu. Denn er nimmt sein eigenes Fühlen nicht ernst. Die Erfahrung zeigt: Nur wenn ich bereit bin, den mit einer Kränkung verbundenen Schmerz zuzulassen, können seelische Wunden heilen.
Der buddhistische Lehrer Thich Nhat Hanh rät Menschen, die unter einer seelischen Verletzungen leiden, zu imaginieren, wie sie in 100, in 200, 300 Jahren dazu stehen. Alles nur eine Frage der Zeit?
So weit in die Zukunft muss ich gar nicht auswandern. Wenn ich mir etwa vorstelle, ich blicke von meinem Totenbett auf die mich quälende Verletzung zurück, dann verändert sich meine Perspektive. Im Schmerz einer Kränkung neigen wir oft dazu, eine Verletzung zu wichtig zu nehmen. Vom Ende unseres Lebens her verschieben sich unsere Prioritäten. Das verletzende Ereignis wird relativer. Es handelt sich ja meist um Verletzungen in Beziehungen, und vielleicht entdecken wir in einer solch veränderten Perspektive auch neu das Gute, das uns in dieser Beziehung geschenkt worden ist. Den oft gehörten flapsigen Spruch „Zeit heilt alle Wunden“ halte ich allerdings für falsch. Klar: Wunden brauchen Zeit, um zu heilen. Aber die Zeit heilt nicht einfach alles. Im Gegenteil: Seelische Verletzungen können lange schwelen und zu einer tief sitzenden Quelle von Bitterkeit und Hass werden.
Was unterscheidet seelische Wunden von äußeren?
Wird jemand durch einen Autounfall schwer verletzt, ist dies für jeden offensichtlich. Und weil sich eine seelische Verletzung nach außen nicht so deutlich zu Wort meldet, lässt sie sich leichter wegschieben und verdrängen. Dazu kommt: Tief gehende Beziehungswunden machen einen oft mundtot. Man traut sich nicht, darüber zu reden, Scham kann zu Vereinsamung und einer Art innerer Gefangenschaft führen und den Schmerz so noch größer machen.
Es muss ja nicht immer böser Wille sein, wenn jemand einen anderen verletzt. „Wir sind Leben inmitten von Leben, das Leben will“: Liegt nicht schon in dieser Einsicht Albert Schweitzers der Grund dafür, dass wir uns immer auch reiben und Beziehungen oft auch konfliktgeladen sind?
Ja. Oft leben Menschen in ihrem Lebensdrang – gewollt oder ungewollt – auf Kosten anderer. In ihrem konkurrierenden Wunsch nach Selbstentfaltung reiben sie sich aneinander. Aber auch fehlende Aufmerksamkeit, Stress oder die Tatsache, dass man einfach mal einen schlechten Tag hat, führen zu Verwerfungen im alltäglichen Zusammenleben.
Seelische Verletzungen – betrifft das vor allem zarte Seelen? Oder hat die Frage danach auch eine gesellschaftliche, politische Bedeutung?
Wir Menschen stehen in der Gefahr, dass wir einen unverarbeiteten Schmerz bewusst oder unbewusst an andere weitergegeben. Dies gilt nicht nur für Individuen: Die Geschichte ganzer Staaten und Nationen zeigt, wie erlittenes Unrecht weitergegeben und auf diese Weise neues Leid verursacht wird. Die Frage ist: Wie finden verfeindete Volksgruppen oder Staaten aus der Spirale von erlittener Verletzung und rächender Gewalt heraus? Die Kraft des Vergebens liegt dann darin, dass die Täter-Opfer-Geschichte nicht fortgeschrieben wird. Ich denke da etwa an die Versöhnungskommissionen in Südafrika. Wichtig ist, dass es zur Begegnung zwischen Tätern und Opfern kommt. Und dass diejenigen, die Gewalt ausgeübt haben, hören und sehen, was sie angerichtet haben.
Bewusste und unbewusste Verletzungen: Was macht den Unterschied?
Wir empfinden eine Kränkung als besonders gravierend, wenn uns jemand willentlich verletzt. So kränkt mich zum Beispiel ein Kollege, der absichtlich rufschädigende Gerüchte über mich in die Welt setzt, mehr als jemand, der aus einem Missverständnis heraus eine falsche Anschuldigung verbreitet.
Es passierte ja nicht nur in Konkurrenzsituationen. Liebe und Verletzung – auch das ist ein gefährliches Feld. Wieso?
Je größer unsere Zuneigung zu jemandem ist, desto näher lassen wir ihn oder sie an uns heran. Nie sind wir verletzlicher als in Beziehungen, in denen wir uns aus Liebe einem anderen öffnen und anvertrauen. Wir legen Panzer und Schutzschild ab. Wir machen uns berührbar – und verwundbar.
Auch „Vaterwunden“ und „Mutterwunden“ kennt man …
In der Kindheit sind wir möglichen Kränkungen und Attacken besonders schutzlos ausgeliefert. Jeder kommt mit der Sehnsucht auf die Welt, dass er die Liebe eines anderen spürt. Jeder braucht Menschen, die einem Geborgenheit und Ur schenken; die einem den Rücken stärken und die einen ermutigen, das Leben zu wagen. Wenn jemand als Kind permanent beschimpft oder entwertet, zurückgesetzt oder vernachlässigt wurde, dann ist das Weiche und Sensible in ihm schwer verwundet worden. Und wer Gewalt oder Missbrauch ausgesetzt war, wurde bis ins Mark verletzt.
Wie kann man mit Kränkungen umgehen? Welche „Fallen“ gibt es dabei?
Eine Falle besteht in der irrigen Meinung: „Ich schulde es meiner Selbstachtung, meine Wut und Entrüstung zu pflegen.“ Doch wenn ich jemandem eine Verletzung auf Dauer nachtrage, bin ich es, die schwer daran trägt. Ich lebe nämlich mit der Last der vergifteten Gefühle und Erinnerungen und bleibe Gefangene meiner Vergangenheit. Das versperrt den Ausweg zu innerem Frieden.
Und was wären Schritte einer wirksamen Versöhnung?
Der Weg der Vergebung ist vor allem ein innerlicher Weg. Ähnlich wie beim Monopoly- Spiel gilt zunächst: Zurück auf Start! Eine seelische Wunde kann nur heilen, wenn wir uns der konkreten Geschichte und dem, was sie in uns ausgelöst hat, zuwenden. Damit verbunden ist, dass in dieser inneren Auseinandersetzung alles auf den Tisch gehört: auch unsere quälenden Gefühle wie Wut und Hass, Ohnmacht oder Angst und dunkle Gedanken wie Rachephantasien und innere Streitgespräche. Im Verlauf des Vergebungsprozesses ist zugleich wichtig, dass wir zu einer realistischeren Sicht vom anderen und von uns selbst gelangen. Denn im Schmerz der Kränkung neigen wir oft zur Schwarz-Weiß-Malerei. Dann meinen wir etwa, dass allein der andere für den Konflikt Verantwortung trägt. Eine objektivere Sicht hilft, die erlittene Verletzung gedanklich leichter zu verarbeiten. Auf dem Weg der Vergebung ist schließlich auch ein Entschluss gefragt, nämlich: Will ich dem anderen vergeben, oder will ich ihm das verletzende Verhalten weiterhin nachtragen? Will ich ewig am Schuldschein festhalten? Oder will ich innerlich einen Friedensvertrag mit dem anderen und mit meiner eigenen Geschichte schließen? Ich kann mich entscheiden.
Braucht es ein spirituelles Fundament, um vergeben zu können?
Klar ist jedenfalls: Vergeben fällt einem nicht in den Schoß, es braucht das geduldige Arbeiten an Erinnerungen und Gefühlen. Doch jemandem wirklich von Herzen verzeihen zu können, ist bei allem Engagement immer auch etwas, das sich der eigenen Verfügungsmacht entzieht. Ich kenne niemanden, der oder die sagt: „Ich verdanke es allein meiner eigenen Selbstoptimierung, dass ich vergeben konnte.“ Insbesondere wer fähig ist, Schreckliches zu verzeihen, erlebt dies im Tiefsten auch als ein Geschenk: als etwas, das (in) ihm geschieht. Als eine Gnade. Und darin liegt die spirituelle Grunderfahrung: Dass ich aus mehr lebe als aus der Kraft des eigenen Ich. Dass ich aus tieferen Quellen schöpfe als nur aus dem eigenen Können. Dass ich aufgehoben bin in einem größeren und tieferen Zusammenhang; in einem Zusammenhang, der Liebe heißt.