Sprechen ohne Worte
Wer die Stille der Nacht kennt, die stumme Kraft der Berge, das Schweigen im Wald, der weiß, wie das Schweigen einen anfasst und tief berührt. Ein staunend schweigender Säugling oder ein liebendes Paar – beide schweigen nicht passiv, als hätten sie einfach aufgehört zu reden, sondern finden sich in einem Raum der Begegnung, in dem die Gefühle sprechen. Sie sprechen ohne Worte. Wir kennen das beredte Schweigen, das verstehende, das barmherzige Schweigen, das Schweigen des Lebens, wenn sich eine Blüte öffnet, das Schweigen des Todes nach dem letzten Atemzug. Wer schweigt, ist bei sich selbst in jenem stillen Raum, der die Vorbedingung für Einfühlung, Sammlung, Innehalten ist. Deswegen schweigen Liebende, weil sich im Schweigen die Liebe besser ausbreiten kann als im Reden. Wer dauernd von Schallduschen berieselt wird, dem macht das Schweigen Angst. Angst vor dem Lauschen ins eigene Innere. Angst vor dem Gespenst der inneren Leere.
Der Sprache der Gefühle trauen
Aber genau dort, wo kein Lärm herrscht, ist der Ort, wo wir hellhöriger, feinspüriger werden, um Dinge wahrzunehmen, die sonst übertönt werden. Das Wesentliche macht keinen Lärm. Es stellt sich ein im Leisen, in der Stille, nicht im Lauten. „Alles, was lange währt, ist leise“, sagt Joachim Ringelnatz treffend.
Unsere Verlegenheit zu schweigen, hat wohl damit zu tun, dass wir der Sprache der Gefühle nicht mehr viel zutrauen und das Sprechen ohne Worte zu wenig üben. Schweigen ist aber manchmal die beste Lösung. Man atmet aus, beruhigt sich, gewinnt Abstand und Zeit. Aber muss es deswegen Gold sein? Reden ist ja auch kostbar. Vor allem wenn es um den Austausch mit den Liebsten geht, die mehr als nur stille Verehrung verdienen. Reden kann man mit jedem, aber schweigen kann man nicht mit jedem, denn es öffnet einen intimen Raum, in dem man Gefühle teilt. Es ist Zeichen tiefer Verbundenheit, wenn Menschen miteinander schweigen können.
Wenn ich an dieses Liebespaar denke, das andächtig und schweigend den Sonnenaufgang am Meer genießt, so empfinde ich dieses Schweigen als heilig. Sie diskutieren, argumentieren, kommentieren nicht, sondern sind miteinander verbunden und ganz wach. In der Weite und gleichzeitig in ihrem inneren Raum. Aber erleben wir nicht oft das ganz andere Schweigen, das dumpfe, bleierne, unnahbare? Nichts bewegt sich mehr, man schottet sich ab und geht aus dem Kontakt.
Wenn Schluss ist mit Schweigen
Es gibt in der Tat Zeitgenossen, deren Klugheit es gebietet, andere sprechen zu lassen, weil ihnen nichts Gescheites einfällt. Oder andere, die derart zur Höflichkeit erzogen sind, dass sie nur reden, wenn sie wirklich etwas zu sagen haben. Andere wiederum sind Experten im Zuhören und geben kaum etwas von sich selbst preis. Dann gibt es die selektiven Schweiger, die nur dann schweigen, wenn es um ihre persönlichen Gefühle und Regungen geht. Oder die „Abstandhalter“, die jedes Gespräch, das Nähe aufkommen lässt, durch ihr gezieltes Schweigen ersticken. Und die Paare im Restaurant, an deren dumpfem Schweigen man erkennt, dass sie sich nichts mehr zu sagen haben. Ob jemand nun weise, zurückhaltend, scheu, wund geschwiegen oder einfach sprachlich unbeholfen oder ungeübt ist, lässt sich von außen schwer feststellen. Aber manchmal gilt einfach: Schluss mit Schweigen. Dann muss man Stellung nehmen, den Mund aufmachen, sich äußern.
Alles zu seiner Zeit
Schweigen ist manchmal, aber nicht immer die höchste, schönste Form der Kommunikation. Demonstratives Schweigen kann ein grausames Mittel sein, andere zu verletzen, zu demontieren und auflaufen zu lassen. Wer je Zeuge eines solchen einseitigen Dialogs war, weiß wovon ich spreche. Der eine der beiden Partner läuft heiß, während der andere mit kaltem „Poker-Face“ wie ein Fels in der Brandung scheinbar unbeteiligt vor sich hin schweigt. In Filmszenen sind solche Szenarien in ihrer Dramatik kaum zu übertreffen. Aber im Alltag kann es tragisch enden, wenn die Kommunikation verweigert wird.
Schweigen ist also nicht immer Gold. Klug reden ist oft schwer. Aber Lebenskunst ist eben beides: klug sein und im richtigen Moment schweigen. Alles zu seiner Zeit, so sagen die Alten. Der Rest ist Schweigen.