einfach leben: Was steckt hinter der Frage, ob der Islam oder die Muslime zu unserer Kultur gehören? Angst vor der Überfremdung?
Peter Heine: Zunächst einmal mangelnde Wahrnehmung. Aber auch Nichtwissen. Nicht nur muslimische Künstler, Ärzte, Sportler, Musiker, Wissenschaftler, Intellektuelle beleben heute unsere Gesellschaft, sondern auch ganz normale Leute, Gemüsehändler, Gastronomen. Und was die Geschichte angeht: Die Kultur der muslimischen Welt hat uns bereichert. Was wäre die abendländische Philosophie ohne Averroes? Und westliche Medizin ohne Avicenna? Und unsere Musik ohne Gitarre, Oboe, Schlagzeug? Ganz zu schweigen von zahlreichen kulinarischen Köstlichkeiten. Natürlich tut sich eine Gesellschaft, die ihre eigenen religiösen Traditionen vergisst, noch schwerer, eine fremde Religion zu verstehen. 60 Prozent der Bevölkerung halten den Islam für eine schlechte Religion. Kein Wunder, wenn noch Stereotypen dazukommen: Als es in Köln aggressive Übergriffe durch nordafrikanische junge Männer gab, war das für viele „der Islam“. Aber käme, wenn sich in Köln großgewordene Abiturienten wilde Schlägereien liefern, jemand auf die Idee, zu sagen: „Das ist der rheinische Katholizismus“?
Bedingt durch die Globalisierungsfolgen sind Muslime jetzt in großer Zahl da. Auf einmal sind sie nicht mehr zu übersehen.
Da sind sie doch seit langem. Wir haben sie nur lange Zeit nicht wahrgenommen. Als 1980 ein Sammelband über das Thema „Religion in der Bundesrepublik“ konzipiert wurde, war unter den Herausgebern strittig, ob man einen Artikel „Islam“ aufnehmen sollte. Einen Beitrag über die heute vergessene Hare-Krishna-Bewegung gab es. Damals lebten bei uns schon 1,5 Millionen Muslime. Man hat sich höchstens da und dort in der Nachbarschaft gewundert, wenn am Freitag zur Gebetszeit die Parkplätze in der Nähe knapper wurden.
Aus 1,5 wurden vier Millionen. Wie erleben Sie die Aufnahme muslimischer Flüchtlinge?
Ich bin beeindruckt, wie sehr sich Menschen unterschiedlicher Herkunft heute bemühen, diesen Flüchtlingen zu helfen, sie dabei unterstützen, sich zurechtzufinden. Tausende investieren unzählige Stunden. Gemeinden machen ihre Kirchen auf und helfen ganz selbstverständlich. Das strahlt aus. Es löst Vorurteile auf und stärkt die eigene Identität. Und wer das tut, erhält viel zurück – auch an Zufriedenheit.
In der Begegnung löst sich Fremdheit auf. Gilt das auch für das Klischee einer gewalttätigen Religion?
Es gibt die Bilder aus der islamischen Welt, von Gewalt, von IS-Terroristen, die ihr Handeln islamisch begründen. Dazu darf man nicht vergessen: Seit der Re-Islamisierung finden in der islamischen Welt schwere Konflikte statt, Stichworte: Golfkrieg, Irak, Afghanistan. Der Westen hat nicht viel dazu beigetragen, diese Konflikte zu entschärfen. Da waren strategische und ökonomische Interessen im Spiel. Aus Unwissenheit über die Zusammenhänge wurde vieles auf den Islam als eine Religion der Gewalt projiziert und schließlich hat man ihn darauf reduziert. Das verdeckt den Islam als eine im Kern und ihrem Wesen nach prinzipiell lebens freundliche Religion und eine spirituelle Kultur.
Was ist damit konkret gemeint?
Nehmen Sie das das Ideal der Gastfreundschaft. Ich habe viele Jahre im Orient gelebt und lebe jetzt in Berlin. Hier geht man vielleicht zusammen in eine Kneipe, aber dass mich jemand nach Hause einlädt, das kommt selten vor. Für Muslime ist auch der Besuch eines unerwarteten Gastes ein Geschenk: Er ist ein Gast Gottes. Vor kurzem haben wir eine Irakerin in einem deutschen Flüchtlingslager besucht. Wie selbstverständlich hatte sie unter schwierigsten Wohnumständen etwas für uns gekocht. Zentral ist für den Islam die Freude am Leben, er ist alles andere als leib- oder sinnenfeindlich. Der Koran lobt das Essen und Trinken als Beweis für die Schönheit der Schöpfung, die Gott uns geschenkt hat. Man fastet im Ramadan untertags und bricht das Fasten dann am Abend mit köstlichen Speisen.
Die spirituelle Schönheit des Islam ist auch im Alltagsleben bemerkbar?
Denken Sie an die Begrüßungsrituale. Die bis heute übliche Praxis, einen Gruß mit einem noch freundlicheren zu beantworten, worauf eine weitere noch freundlichere Erwiderung folgt, geht auf den Koran zurück. Der gute Gruß wird von Gott als gute Tat gewertet. Als nach dem 2. Vatikanum der Friedensgruß in der katholischen Messe auch auf die Gemeinde übertragen wurde, war dieses emotionale Moment vielen von uns doch zunächst etwas fremd. Ein Moslem, selbst wenn er allein betet, wendet sich nach rechts und links, weil da Engel sind, denen er den Friedensgruß entbietet. Er weiß sich immer in Gemeinschaft.
Haben wir ein Problem mit den Muslimen, weil sie uns an etwas erinnern, was uns in der eigenen Religion verlorengegangen ist? Fromme Muslime halten Christen ja auch den Spiegel vor, was das selbstverständliche Bekenntnis der Realität Gottes angeht, die gelebte spirituelle Praxis in Gebet und Fasten.
Ich glaube: Das ist weniger ein Problem der Christen als der Nichtchristen. Dass Menschen die Schwierigkeiten ihres Lebens durch spirituelle Praxis erträglich machen, können viele von ihnen nicht verstehen.
Zum theologischen Kern von Islam und Christentum: Da gibt es doch auch Gemeinsamkeiten?
Natürlich: Die Gotteserfahrung verbindet die beiden Religionen zutiefst. Dass uns Gott näher ist als unsere Halsschlagader, das steht im Koran und findet sich auch bei christlichen Mystikern: Gott, der alles umfasst. Und es gibt daneben die gemeinsame Erfahrung: Er ist auch fern, unnahbar, unergründlich. Die Gemeinsamkeiten sind viel größer als die Unterschiede.
Was könnte die Botschaft der beiden Religionen sein, ihr gemeinsames Zeugnis?
Sicher der Glaube an den einen Gott, dessen Geschöpfe wir alle sind. Es gibt ja nicht den muslimischen „Allah“ und den biblischen „Gott“: Es gibt nur einen Gott. Zudem: Bis auf eine Ausnahme beginnt jede Sure des Korans mit der Formel „Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Erbarmers“. Zu Recht kann man in der Barmherzigkeit Gottes den Schlüssel sehen, um den Koran richtig zu lesen. Und wenn Papst Franziskus Gottes Barmherzigkeit als lange zu sehr verdeckte Grundaussage des christlichen Glaubens sieht, dann ist das doch die Botschaft, die beide Religionen stärker vermitteln müssten.
Und was verbindet die beiden Religionen in der Ethik?
Das Ideal der Gastfreundschaft und das Gebot der Nächstenliebe. In der Gastfreundschaft ist auch die Feindesliebe als Befriedung eingeschlossen. Wer einmal als Gastfreund akzeptiert ist, kann nicht mehr als Feind behandelt werden, und man muss auch für seine Sicherheit sorgen.
Es geht also um die gelebte Praxis des Miteinanders. Was ist die Voraussetzung dafür?
Man sollte die eigene ideologische Verblendung, die eigenen konfessionellen Zerstrittenheiten und die blutigen Leidenschaften nicht verdrängen – und darf optimistisch sein, weil die Geschichte zeigt, dass sie überwindbar sind: Als ich im Jahr 1950 in die katholische Graf-von-Galen Volksschule von Warendorf kam, gab es einen Spruch, in dem von „evangelischen Ratten“ die Rede war, „in Ketten geschnürt, zur Hölle geführt“. 1950! 60 Jahres später versuchen in Berlin die beiden Kirchen jetzt ein gemeinsames Lehrbuch für den Religionsunterricht zu erstellen!
Es gibt so viele Wege zu Gott, wie es Menschen gibt, sagte Joseph Ratzinger. Man sollte also nicht eine gute gegen eine böse Religion ausspielen?
Ich kenne böse Christen und böse Muslime, und es gibt laue in beiden Religionen, auch in den höheren Etagen. Es leben Millionen von Muslimen hier, die genauso gut oder so schlecht sind wie die Christen oder Nichtchristen. Immer wieder werde ich gefragt, warum Muslime denn Wein trinken: Das dürfen die doch nicht! Ich sage dann: Vorehelicher Geschlechtsverkehr soll für Katholiken verboten sein. Soweit ich weiß, ist es trotzdem vorgekommen. Ich kenne heiligmäßige Christen, und ich kenne Menschen, die man unter muslimischen Kriterien als Heilige bezeichnen könnte. Wer Nächstenliebe und Gastfreundschaft in einem exzeptionellen Maß lebt, hat in meinen Augen das Zeug zum Heiligen.