Ewigkeit als Raum
In einer gotischen Kirche wird der Himmel erfahrbar und anschaulich, und zugleich wird deutlich, dass dieser Himmel die irdische Wirklichkeit bei weitem übersteigt. Die hohen, nach oben strebenden Säulen, die das Kreuzgewölbe tragen, ziehen mein Herz nach oben. Ich spüre in mir eine Weite. Gott ist der, der mein Herz weitet, der es öffnet für eine andere Wirklichkeit. Das Alltägliche wird relativiert. Der Kirchenbau mit seinen lichtdurchfluteten Fenstern wird zum Ewigkeitsraum. Ich spüre, dass ich nicht nur ein Mensch der Erde bin, sondern auch ein Mensch des Himmels. Ich frage mich in einer gotischen Kirche: Was ist das für ein Glaube, den die Menschen durch diese Art des Bauens zum Ausdruck gebracht haben? Sie haben sich die Mühe gemacht, über Jahre hinweg an dieser Kirche zu bauen. Sie wollten damit zeigen, wie wichtig ihnen der Glaube ist. Und sie haben in der Schönheit der Kirche ausgedrückt, dass Gott ein Gott der Schönheit ist, dass er nicht der Gesetzgeber ist, der uns durch Gebote niederdrückt, sondern dass er unsere Herzen nach oben zieht: Gott ist der, der uns mitten in den Nöten dieser Welt den Himmel öffnet, damit wir aufschauen zu ihm, der unser Herz weitet und uns neues Vertrauen schenkt.
In Berührung mit meinen Wurzeln
Wenn ich in einer gotischen Kirche sitze, stelle ich mir auch vor: Ich habe Anteil an dem Glauben, den die Menschen durch den Bau dieser Kirche ausgedrückt haben. Die Steine der Kirche sind gebaute Mystik. Und das gedankliche Konzept einer Ganzheit, die Sinnliches und Übersinnliches verbindet, das hinter dieser Architektur steht, spricht von dem Glauben der Menschen, die diesen Bau erstellt haben. Aber ich habe auch Anteil an dem Glauben, den die Menschen in dieser Kirche seither bekannt und gelebt haben. Denn seit Jahrhunderten haben hier Menschen gebetet und Eucharistie gefeiert. Sie sind mit ihren Sorgen und Nöten in diese Kirche gekommen und haben darin Trost gefunden. Ich komme, einfach indem ich in diesem Raum sitze und mich seiner Atmosphäre anvertraue, in Berührung mit den Wurzeln meines eigenen Glaubens. Das stärkt meinen Glauben. Und es befreit mich von dem Leistungsdruck, dass ich immer ganz fest glauben muss. In der Kirche atme ich die Atmosphäre des Glaubens ein. Ich fühle mich getragen vom Glauben all der Menschen, die hier gebetet haben. Die Wurzeln meines Glaubens werden dadurch fester. Und durch diese Wurzeln kann die Kraft des Glaubens auch neu in mich einströmen. So ist allein das Sitzen in der gotischen Kirche für mich schon Gotteserfahrung.