Rudolf Walter: Sie werden immer wieder als vorbildlicher Unternehmer vorgestellt. Was machen Sie anders?
Heinrich Staudinger: Vielleicht einfach das: Bei mir ist nicht das Geld im Zentrum. Viele Unternehmer sehen den Hauptzweck ihrer Firma darin, möglichst viel Geld aus ihrem Unternehmen zu ziehen. Für mich ist Geld Werkzeug, aber nicht Lebensinhalt. Bei den „Waldviertler Werkstätten“ bin ich 1991 Mitbesitzer geworden, weil die Firma in einer schweren Krise war. 1994 wurde ich Geschäftsführer, weil sich die Firma keinen anderen leisten konnte. Die folgenden Jahre haben wir keinen Gewinn gemacht. Die Bilanz wies eine schwarze Null aus. Ich habe am Jahresende dankbar gesagt: Nie ist zu wenig, was genügt.
Eine schwarze Null? Nicht gerade der Traum eines Unternehmers.
In den 1990er Jahren haben auch in Deutschland und Österreich die letzten Schuhfabriken zugesperrt. Meine Überzeugung war: Wenn die anderen zusperren und es uns noch gibt, ist das schon ein Erfolg. Und inzwischen haben wir ja Gewinn. Aber die Frage ist: Wofür steht der Gewinn? Im Vordergrund stehen für mich die Gesundheit der Firma und das Wohl der Mitarbeiterschaft, als deren Teil ich mich immer verstanden habe.
Sie betonen die soziale Komponente des Unternehmens. Wie zeigt sich die im Alltag? Hohe Löhne können es ja nicht sein.
Nach dem Krieg war das Teuerste an einem Schuh das Material, das Leder. In der Zwischenzeit ist das Teuerste die Arbeit – skandalöserweise durch viele Abgaben künstlich verteuert. Also ist die Arbeit rasant in die Billiglohnländer geflüchtet. 80% aller Schuhe werden heute in Vietnam, Indien, Brasilien und China produziert, und die Chinesen lagern inzwischen nach Äthiopien aus, weil dort nur zehn Cent Stundenlohn, bezahlt werden. Andererseits kann die Schuh- und Textilindustrie auch mit ungelernten Leuten arbeiten. Ich finde wichtig, dass Menschen, die Bildungschancen verpasst haben, eine Möglichkeit zu sinnvoller Arbeit bekommen. Wir können alle lernen, mit bescheideneren Löhnen ein gutes Leben zu führen.
Sie ziehen für sich selbst kein Geld aus der Firma?
Ich habe seit 2003 kein Privatgeld: also kein Bankkonto, kein Sparbuch, keinen Bausparvertrag, keine Lebensversicherung, kein Wertpapier. Ich brauche häufig keine 50 Euro in der Woche, weil ich alles in der Firma habe: Kaffee, Essen, ein geheiztes Zimmer. Mein materielles Auskommen ist total an den Firmenerfolg gebunden. Ich bin also in einer geschwisterlichen Situation mit meinen Mitarbeitern.
Was heißt das im Alltag?
Ein Beispiel: Am ersten Dienstag im Monat feiern wir die Geburtstagskinder des Monats. Bei 170 Mitarbeitern sind das manchmal 10-20. Es gibt Pizza für alle. Wir singen „Viel Glück und viel Segen“. Und alle bringen von zuhause Dinge mit: Lebensmittel, Kleider, Elektrogeräte, die in perfektem Zustand sind, aber nicht gebraucht werden, für einen anderen aber einen Nutzen haben können. Bei jedem Fest sind zwei, drei Tische voll mit Gaben. Die Geburtstagskinder dürfen sich zuerst bedienen, dann alle. Kostet uns nichts. Oder: Jeden Freitag gibt es zehn mit Biogemüse, Biokäse und frischen Eiern beladene Tische, kostenlos, für alle.
Leben und arbeiten: Was ist für Sie der Sinn der Arbeit – gerade bei dem, was in Ihren Werkstätten anfällt?
Die moderne Schuhindustrie funktioniert so, dass das Werkstück im Akkord von Hand zu Hand gereicht wird: Ich kriege den Schuh, habe 12 Sekunden Zeit für meinen Handgriff und muss ihn an die nächste Person weitergeben. 12 Sekunden! Und das 40 Stunden die Woche: Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Mensch deswegen auf die Welt gekommen ist. Bei uns spielt das Handwerk eine große Rolle: Schuhe sind heikel, weil die Füße strenge Qualitätskontrolleure sind. Ein falsch genähter Millimeter kann einen Schuh fast untragbar machen. Zweimal im Jahr haben wir sog. Hausmesse, da kommen bis zu 8.000 Leute in drei Tagen, und die meisten Schuhmacher arbeiten im Verkauf mit – und kriegen dann auch die Komplimente für ihre Arbeit! Wir haben bei uns jetzt übrigens 50 Prozent aller österreichischen Schuhmacherlehrlinge.
Nicht-entfremdete Arbeit als Hauptziel?
Ja, und wer etwas gekonnt macht, sieht einen größeren Sinn darin, wenn er dann auch noch die Resonanz des Kunden mitbekommt. Die beste Arbeit ist, wenn ich die Arbeitszeit zu meiner Lebenszeit dazurechnen kann: weil ich es gern mache.
Wie sind Sie zu dieser Sicht der Dinge gekommen?
Wir hatten zuhause einen kleinen Tante- Emma-Laden. Da habe ich alles Wichtige fürs Leben gelernt: Mit zwei Jahren habe nicht nur ich, sondern auch alle meine Geschwister grüßen gekonnt, mit drei Jahren bedienen. Und mit sechs Jahren konnten wir schon Kopfrechnen. Und meine Eltern wussten, dass Auskommen entscheidender ist als Einkommen. Wichtig war aber auch das katholische Internat „Petrinum“, das im Zeichen des Zweiten Vatikanums stand, als die Fenster geöffnet wurden. Es gab damals heiße Diskussionen über Christen tum und eine gerechte Gesellschaft. Ich habe dann ein Theologiestudium begonnen, aber nach einem Semester wieder aufgehört, weil es mir zu kopflastig war und bin mit 19, zusammen mit einem Freund, mit dem Moped von Oberösterreich nach Tansania gefahren.
Was haben Sie in Afrika gelernt?
Dass es im Leben nichts Wichtigeres gibt als das Leben selbst. Mit allen Härten und dennoch mit Lebensfreude und tiefer Verbundenheit der Menschen untereinander und mit der Natur. Später habe ich einen Quäkersatz gefunden: „Grenzenlos glücklich, absolut furchtlos, immer in Schwierigkeiten“ – ein Lebensmotto, das ich mir auch zu eigen gemacht habe.
Was ist passiert auf dem Weg, dieses Motto umzusetzen?
Das wichtigste war, dass ich 2003 diese Geldanhäufung beendet habe. Ich gehe aber gern mit Geld um, im Namen der Firma und für sie. Da habe ich eine Wächterfunktion im Dienst aller. Zur Vorgeschichte gehört: Ein Bankdirektor hat 1999 den Kreditrahmen von ca. 800.000 auf 500.000 Euro gekürzt. Ich war zornig und wollte Rechenschaft von ihm, weil es der Firma damals gut ging. Der machte sich nur lustig. Ich wollte aber die Firma schuldenfrei machen, und 2003 waren wir schuldenfrei! Ich habe Freunde und Verwandte gefragt, ob sie Geld in der Firma anlegen wollen. Und natürlich musste ich auch mein eigenes Geld anlegen. Erst nach einem halben Jahr habe ich mich dann tatsächlich entschlossen, alle Sparbücher, alle Lebensversicherungen etc. aufzulösen und alles in die Firma zu stecken. Danach war ich ganz erstaunt, wie frei ich mich plötzlich gefühlt habe.
Wenn Leben das Entscheidende ist: Was ist für Sie das Geheimnis des Lebens?
Manchmal denke ich: Das Ziel ist erreicht, wenn man diese Frage gar nicht mehr stellt. Arbeit, also etwas tun, das kann eine große Hilfe sein. ChristenAber auch das Lassen. Es gibt einen Satz von Buddha: „Um das Geheimnis zu erkennen, braucht es die Stimme eines anderen, und tiefes Nachdenken.“ Beides ist wichtig.
Was sind Ihre alltagstauglichen Prinzipien einer praktischen Lebensphilosophie?
Es gibt drei, im Waldviertler-Deutsch: 1. Scheiß di ned aa. 2. Sei ned deppert. Und 3. Orientier dich an der Liebe. Wenn ich die ersten beiden übersetze: Bleib gelassen und hab nicht gleich die Hose voll. Aber Mut allein reicht oft nicht aus, Klugheit muss dazukommen. Mutig und schlau kann allerdings auch ein Krimineller sein. Daher das dritte, die Liebe. Es braucht die Verbundenheit mit anderen.
Kann man denn überhaupt als Einzelner etwas bewirken?
Wenn man selber was tut, verändert sich auch die Umgebung. Es gehört zu den großen Sehnsüchten des Menschen, bei etwas dabei zu sein, was die eigene Größe übersteigt. Und das kann ich im Normalfall nicht allein. Gemeinsam geht es jedenfalls schneller. Die Fähigkeit, die wir dabei üben müssen: die Kräfte mit gutem Willen mobilisieren. Und das ist etwas Beglückendes.