Ein natürlicher Übergang
Zu den natürlichen Übergängen im Leben gehört, dass aus abhängigen kleinen Kindern selbstständige Erwachsene werden. Erwachsen werden heißt: im Verlauf seiner Entwicklung immer mehr zu lernen, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, aus der Obhut der Eltern wegzugehen und Eigenständigkeit einzuüben. Das bedeutet zum Beispiel, neuen Bindungen Raum zu geben, wenn man seinen Lebenskreis über die eigene Herkunftsfamilie hinaus erweitert. Der Sohn geht etwa ins Ausland, um dort für ein Jahr zu studieren. Oder die Tochter verlässt das Haus, weil sie in einer anderen Stadt die Arbeit gefunden hat, die sie immer gesucht hat. Oder aber die Kinder ziehen aus, weil sie mit Freundin oder Freund in eine gemeinsame Wohnung gehen und eine eigene Lebensform ausprobieren möchten. Es gibt viele Gründe, warum Kinder ausziehen. Aber ein solcher Auszug, eines oder gar aller Kinder, macht natürlich auch etwas mit den Eltern. Nicht immer sind sie nur froh, dass der häusliche Stress jetzt geringer wird. Nicht selten haben sie das Gefühl, dass das Haus auf einmal leer ist. Die täglich gelebte und erlebte Beziehung wird vermisst. Die Mutter erkennt auf einmal, wie sehr ihr die Anwesenheit des Sohnes gut getan hat. Der Vater vermisst die Tochter, mit der er so gute Gespräche hatte. Alles wird auf einmal anders.
Heilsames Erschrecken
Jetzt sind die Eltern auf sich allein gestellt. Oft genug bringt der Auszug der Kinder die Eltern in eine Ehekrise. Sie müssen nicht nur den Abschied von den Kindern verarbeiten. Jetzt müssen sie auch neu entdecken, was sie füreinander fühlen. Vielleicht erkennen sie, dass sie in letzter Zeit gar nicht viel miteinander gesprochen haben. Ihre Kommunikation hatte sich immer um die Kinder gedreht. Jetzt ist es an der Zeit, den Ehepartner neu zu entdecken. Manch ein Ehepartner erschrickt, wenn er erkennt, wie wenig er dem anderen zu sagen hat. Aber dieses Erschrecken kann auch heilsam sein. Es ist eine Einladung, sich bewusst Zeit füreinander zu nehmen, wieder einmal einen langen Spaziergang oder eine längere Wanderung zu unternehmen und miteinander darüber zu sprechen, wie sie das Leben nun zu zweit gestalten möchten. Was ist da bisher zu kurz gekommen zwischen uns? Was haben wir vernachlässigt? Worauf haben wir Lust? Was könnte uns gut tun? Und wie können wir wieder an die ersten Jahre anknüpfen, in denen wir auch allein mit uns waren?
Neue Chance für die Partnerschaft
Es ist die Aufgabe der Eltern, nicht einfach nur nachzutrauern, dass die Kinder ausgezogen sind. Denn nachtrauern und sich ständig vorsagen: „Wäre doch jetzt der Sohn/die Tochter noch da“, entzieht den Eltern alle Energie. Sie sollen den Abschied betrauern. Es tut weh, die Kinder zu verabschieden. Aber das Betrauern sollte sie in Berührung bringen mit sich selbst, mit dem Grund ihrer Seele. Dort auf dem Grund ihrer Seele entdecken sie ihre wahre Identität, die mehr ist, als Vater oder Mutter zu sein. So können sie sich fragen: Was will jetzt in mir wachsen? Was ist jetzt dran? Und dann sollten die Eltern sich gemeinsam überlegen, wie sie ihr Leben in einer guten Weise neu gestalten möchten. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, gut für sich selbst zu sorgen, den einen oder anderen Kurs zu besuchen, entweder allein oder zu zweit als Paar. Auf jeden Fall sollten die Eltern nicht nur passiv auf den Auszug reagieren, sondern aktiv überlegen, welche Chance darin für ihre Partnerschaft steckt.
Abschiedsrituale helfen
Aber der Auszug ist nicht nur für die Eltern eine Krise, sondern oft auch für die Kinder, die ausziehen. Oft kommen dann die Kinder in eine Identitätskrise. Wer bin ich, wenn ich jetzt ganz allein an einem andern Ort wohne, wenn ich auf mich gestellt bin? Es war ja auch bequem, sich daheim umsorgt zu wissen, immer einen Ansprechpartner zu haben. Damit der Auszug für die Kinder zu einem Entwicklungsschritt wird, ist es gut, ein Abschiedsritual zu feiern. Ein Abschiedsritual könnte so aussehen: Die ganze Familie setzt sich zusammen zu einem feierlichen Abendessen. Und jeder aus der Familie erzählt: „Was vermisse ich, wenn du jetzt ausziehst? Was bedeutest du für die Familie? Was wünsche ich dir auf deinem neuen Weg?“ Und dann kann der ausziehen de Sohn, die ausziehende Tochter sagen: „Was nehme ich gerne mit von hier? Was habe ich hier gelernt? Was kann mir als Rüstzeug für meinen Weg dienen? Und was lasse ich gerne zurück?“ Man könnte seine Wünsche auch in Briefform schreiben und sie dem ausziehenden Kind mitgeben, damit es sie dann am neuen Ort in aller Ruhe lesen kann, vor allem dann, wenn es sich einsam fühlt. Bei einem Ritualkurs sprach ich vom Abschiedsritual für ausziehende Söhne und Töchter. Sie sind wichtig, um einen Lebensabschnitt abzuschließen und die Tür zu einem neuen Lebensabschnitt zu öffnen. Da kam ein Vater auf mich zu. Er hatte das Gefühl, dass das fehlende Abschiedsritual an der Krise seiner Tochter schuld war. Die Tochter zog in eine fremde Stadt. Doch es war eine Zeit ziemlicher Hektik. Daher war da keine Zeit, richtig Abschied zu nehmen. Der Vater fuhr sie nur in die fremde Stadt und brachte ein paar Möbel mit, um ihr Zimmer einzurichten. Nach drei Monaten musste der Vater die Tochter wieder nach Hause holen, weil sie inzwischen depressiv geworden war und nichts mehr essen wollte. Natürlich kann man nicht mit Gewissheit sagen, das fehlende Abschiedsritual habe die Depression der Tochter verursacht. Doch dieser Vater hatte das Gefühl, dass die Depression etwas mit dem nicht gelungenen Abschied zu tun hatte. Ein Abschiedsritual ist auf jeden Fall eine Hilfe für den ausziehenden Sohn, die ausziehende Tochter, die woanders einen neuen Lebensmittelpunkt haben werden, um ihre Identität zu festigen. Viele Studierende kommen in eine Identitätskrise, wenn sie plötzlich auf sich selbst gestellt sind. Sie haben den Schritt in die neue Existenz gar nicht bewusst vollzogen. So ist der Auszug der Kinder für beide, Eltern und Kinder, eine Krise und zugleich eine Chance, über ihre Identität nachzudenken und mit ihrem wahren Selbst in Berührung zu kommen. Und er ist eine Einladung, für sich und das Miteinander Neues auszuprobieren und neue Wege zu gehen.