Gott - nah auch im Dunkel

Der gewaltsame Tod ihrer Schwester, nur ein Jahr älter als sie, erschütterte das ganze Land: Barbara Ladenburger war in Bolivien, als ihre Schwester Maria in Freiburg durch ein Verbrechen ums Leben kam. Wie kann man da noch Weihnachten feiern? Der Herausgeber von einfach leben, Rudolf Walter, sucht im Gespräch mit ihr nach Antworten.

Gott - nah auch im Dunkel
Nach ihrem Freiwilligen Sozialen Jahr in einem Kinderheim der Salesianer in Santa Cruz, Bolivien, hat Barbara Ladenburger ein Theologiestudium begonnen.© Barbara Ladenburger privat

einfach leben: Für die meisten ist es das schönste Fest im Jahr. Was bedeutet Weihnachten für Sie?

 Barbara Ladenburger: Für mich ist es ein Familienfest. Und ein Fest, an dem der Glaube präsent ist. Auch viele eher kirchenferne Freunde finden an Weihnachten einen Bezug zur Religion. Menschwerdung, Nähe Gottes zu den Menschen: Diesen Kern von Weihnachten versuche ich, mir in Erinnerung zu rufen. Wenn der Weihnachtsrummel im Advent anfängt, frage ich mich allerdings oft, wohin diese eigentliche Bedeutung verschwunden ist.

In einer Zeit, in der Kirche vielen eher fragwürdig ist und Theologisches nicht im Zentrum der „gefragten“ Werte steht, haben Sie sich entschlossen, Theologie zu studieren. Warum? Ich wollte verstehen, was mein Herz fühlt und was mir wichtig ist, wollte intellektuell klären, was ich emotional mit Kirche, Glauben und Gott verbinde. In meiner Schulzeit schon war ich eine der wenigen, die mit Glauben etwas anfangen konnten. Man kann doch in die Kirche gehen und ein ganz normaler junger Mensch sein.

 Und was heißt das für Weihnachten konkret? Nur ein Hochfest im Dezember? Nein. Aber die Menschen werden, so mein Eindruck, im Advent offener, nehmen sich gegenseitig mehr wahr, kümmern sich auch eher um Ärmere, Bedürftige. Das sollte eigentlich das ganze Jahr über ins Leben ausstrahlen. Wir haben hier in Münster, mitten im Jahr, zusammen mit unserer Kirchengemeinde ein Sommerfest für obdachlose Menschen organisiert. Das Motto: „Weihnachten ist alle Tage“.

 Weihnachten als Fest. Was aber ist, wenn Tod und Trauer einbrechen? Ihre Schwester war auch Teil Ihrer fröhlichen, festlichen Familiengemeinschaft. Plötzlich mussten Sie Weihnachten ohne sie feiern. Sie fehlt. Und das ist mir schmerzhaft bewusst. Und gleichzeitig ist es doch auch schön, wenn wir an Weihnachten alle zusammenkommen. Die Erinnerung an sie wird da lebendiger. Ich fühle mich ihr näher. Gerade weil sie ja ein großer Familienmensch war, tut es gut, mit allen zusammen zu sein, Dunkelheit und Trauer gemeinsam durchzustehen.

 In den adventlichen Texten spielen die Bilder von Nacht und Licht eine Rolle … Für mich ist das Bild vom Weihnachtsstern wichtig. Ich habe Kälte und die dunklen Seiten des Lebens erfahren: Aber auch in der Nacht können Sterne aufgehen. Ein schönes Symbol finde ich, dass man im Advent ein Licht nach dem anderen anzündet.

Aber die Erfahrung des Negativen, des Schlimmen bleibt doch? Man erfährt das Böse natürlich erst einmal in seiner überwältigenden Negativität. Der Tod meiner Schwester kam ja aus dem Nichts. Ich habe die Umstände ihres Todes erst gar nicht verstanden. Ich habe Zeit gebraucht. Aber vielleicht war auch das eine Weihnachtserfahrung: zu erleben, wie viele Menschen sich um mich und meine Familie gekümmert haben. Da ist wieder Hoffnung gewachsen. Ich konnte die Sterne wieder sehen. Maria war selber ja ein Stern für viele Menschen. Das sieht man an ihren Texten, die sie hinterlassen hat, die sie an Freunde geschrieben hat. Sie hatte die Gabe, Menschen anzunehmen, wie sie sind, sich mit ihnen zu freuen, mit ihnen zu leben, sie den Kopf heben zu lassen, wenn es mal nicht so lief.

Das war stärker als alles Negative, der Schwall an Bosheit, der aggressive Lärm im Internet? All das haben wir tatsächlich erfahren. Aber all diese Unterstellungen und Projektionen hatten nichts mit ihr zu tun hat, das konnte ihr keine Würde nehmen. Wichtig war unser Glaube: Sie ist bei Gott aufgehoben. Für sie war alles gut. Nur wir müssen versuchen, damit umzugehen.

Damit umgehen: Das heißt auch, akzeptieren, dass es das Böse gibt? Es hilft nur, weiter an das Gute im Menschen zu glauben. Weihnachten heißt: Gott selbst kommt in diese Welt, in der es das Böse gibt, er kommt in eine Realität des Unfriedens, des Leidens. Und ich bin daher in meiner Situation nicht allein. Weihnachten, Passion und Ostern gehören zusammen. Ich habe viel verloren, uns wurde viel genommen. Aber die Reaktion auf Böses kann nur sein: liebevoll mit Menschen umzugehen. Den Hass nicht zulassen, sich nicht abschotten. Das Böse ist Realität. Ich kann nur versuchen, es durch Liebe zu besiegen. Das hat größere Kraft. Wie sehr es hilft, Liebe zu geben, habe ich in besonderer Weise in meiner Zeit in Bolivien gelernt.

Sie haben damals in Santa Cruz in einem Heim für schwierige Jugendliche und Kinder gearbeitet. Wie war es, dort das erste Weihnachten nach dem Tod Ihrer Schwester zu feiern? Ganz anders! Bei 30 Grad Hitze. Wir waren mit den Kindern Heiligabend im Schwimmbad. Und es war zudem besonders: an diesem Fest der Familie und der Kinder nicht mit meiner Familie (die mich dann später besucht hat) zusammenzusein. Aber auch, mit Kindern zu feiern, von denen viele keine Familie mehr haben. In der Messe an Heiligabend ist mir das besonders bewusst geworden. Und ich hatte das Gefühl, mit den Kindern zusammen eine neue Familie zu bilden.

 Auch das Kind der Weihnachtsgeschichte ist ja nicht im Zentrum einer Idylle. Der Messias kommt zur Welt in einem Stall, ärmlich, ohne Rechte: eigentlich als Straßenkind. Ganz abgesehen von der Bedrohung, dem Schrecken, der im Kindermord zu Betlehem, der Fluchtgeschichte eine Rolle spielt. Ich lese die Weihnachtsgeschichte anders, seit ich mit Straßenkindern zusammengelebt habe: Gott wird Mensch nicht als König, nicht hier in Europa und in wohlsituierten Verhältnissen, sondern als Schutzloser, in der Situation von Not und Bedürftigkeit. Ich habe das mit diesen Kindern erlebt: Sie haben Schlimmes erlebt, Missbrauch, Gewalt, Armut. Und trotzdem versuchen sie, mit Freude zu leben. An ihnen habe ich erfahren: Gott ist nicht nur vor 2000 Jahren Mensch ge worden. Er wird immer wieder Mensch: in vielen Menschen, die uns begegnen.

 Wie haben Sie selbst das konkret erlebt? Ein unvergesslicher Moment: Ich saß in der Kapelle und weinte. Vorher hatten sie ein Marienlied gesungen. Da kam ein kleiner Junge, vielleicht neun Jahre alt. Er fragte mich: „Warum weinst du?“ Ich sagte, weißt du, das Leben ist nicht leicht, du erinnerst dich, meine Schwester ist gestorben. Und dann meinte er: „Nicht weinen, ich habe auch nicht geweint, als meine Mama gestorben ist.“ Mir ist in dem Moment schier das Herz gebrochen. Und dann saß er einfach da und hat meine Hand gehalten. Eigentlich war ich die Ältere, die da war, um ihm zu helfen. Er war doch der „Hilfsbedürftige“. Ich habe damals gelernt: Auch in einer solchen Situation kann man versuchen, sich gemeinsam etwas zu schenken. Ich brauchte in dem Moment Kraft, und er konnte sie mir geben. Zu einer anderen Zeit konnte ich ihm helfen.

 Ruth Pfau sagt einmal, dass Leid und Scheitern nicht notwendigerweise nur Verlust bedeuten, sondern auch Chance, Gnade, Geschenk. Dass das Leben eben paradox ist und so reich. Ist es das? Natürlich ist da der Verlust. Der Schmerz bleibt. Aber man kann den Fokus auf das Tragende lenken: Andere schenken mir etwas, und ich beschenke andere, wenn ich meine Geschichte erzähle und berichte, wie andere mit Schwerem umgehen. Das Leben bleibt paradox. Vieles verstehe ich nicht, kann ich nicht verstehen. Es ist ein Geschenk, dass wir als Familie das Erlittene durchstehen. Das ist nicht selbstverständlich. Seit dem Tod meiner Schwester ist Dankbarkeit sehr wichtig geworden. Ich bin dankbar für die 19 Jahre, die Maria hatte, für alle Freunde, die sie hatte und jetzt noch hat, für alle, die uns als Familie helfen. Das ist für mich ein Geschenk. Und Gnade. Wenn wir uns als große Familie verstehen, kann uns das alle weiterbringen. Weihnachten als Familienfest, das bekommt dann eine neue, globale Intensität.

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