einfach leben: Die Position „dazwischen“ ermöglicht einen anderen Blick, vermittelt eine andere Wahrnehmung. Nun waren Sie „zwischen Leben und Tod“, nach einer großen Operation. Was hat Sie das über das Leben gelehrt? Und was über den Tod?
Niklaus Brantschen: Ich habe gelernt, das Leben neu zu sehen: als einmalig, begrenzt, zu Ende gehend und gerade darum kostbar. Das habe ich natürlich schon vorher gewusst. Aber etwas wissen und etwas existentiell erfahren, es von innen her schmecken – das ist etwas ganz anderes. Und was den Tod angeht: Da war eine Leichtigkeit zu spüren. Eine Ahnung von der Grenzenlosigkeit des Lebens, an dem wir nicht erst nach dem Tod teilhaben, das wir gültig, aber noch nicht endgültig schon jetzt erfahren.
Eine so schwere Krankheit – Ernstfall der Spiritualität? Auch für einen Zenmeister?
Auch ein Zenlehrer ist kein spiritueller James Bond, dem nichts und niemand etwas anhaben kann. Eine solche Situation ist ein Testfall – ob das trägt, was ich im Leben auf einem spirituellen Weg einübe. Krankheit, Verletzlichkeit, Hinfälligkeit gehören aber grundsätzlich zu jedem Leben. In der Brüchigkeit des Lebens entstehen Risse, durch die etwas Neues einbrechen kann.
Im Zen übt man auch, mit Emotionen umzugehen: Gibt es in einer solch existentiellen Extremsituation dann nicht doch auch starke Emotionen, Angst und Schrecken?
Mein Zenlehrer Yamada Roshi sagte mir, kurz bevor er starb: Er habe in seiner Krankheit zum Tod etwas Letztes erfahren. Auch bei mir war da weniger Angst, eher eine ruhige, klare Einsicht. Natürlich hatte ich zuerst einen Schrecken, als ich damit konfrontiert wurde, dass dieser schwere Eingriff nötig war. Ein Schrecken weckt auf, ist aber auch heilsam. Schon darin kündigte sich die Tiefe der Erfahrung an, dass hinter und über allem Erschrecken das gütige Walten Gottes ist. Da war Vertrauen. Glauben und Vertrauen muss man freilich im Leben einüben. Wenn das nicht eingeübt ist, werden manche in diesen ex extremen, letzten Momenten möglicherweise zappeln wie ein Fisch an der Angel – bis sie sich gehen lassen können. Die Haltung des Vertrauens stellt sich wohl eher ein, wenn es eingeübt wird. Dazu hilft spirituelle Praxis.
Braucht es eine so schwere Krankheit, um das einzusehen?
Eine Freundin sagte mir: „Ein bisschen Krankheit hätte nicht genügt, dich zu verändern.“ Was mir da jedenfalls ganz klar wurde: Tod und Leben sind nicht getrennt. Unser Leben ist Teil des sogenannten ewigen Lebens. Ewiges Leben ist nicht nach der Zeit. Es ist eine Dimension in der Zeit. Zeit hat Ewigkeitscharakter in sich. In unserem Leben ist Ewigkeit, jetzt. Das zu entdecken hat mich verändert: Ich bin jetzt dabei, mehr zu sein und weniger zu machen. Ich realisiere, dass ich wichtig bin für Menschen, nur weil ich lebe.
Auch die Frage „Wer bin ich eigentlich?“ stellt sich jetzt anders?
Wenn ich es aufgebe, mich zu „definieren“, also zu begrenzen, über Rolle, Aktivitäten, meine Bedeutung, kann ich zugeben: Ich bin ein „Ich weiß nicht wer“. Das befreit auch: Wo nichts ist, kann alles werden.
Sie sprachen von der Einheit der Wirklichkeit. Wie ist die mitten im Leben erfahrbar?
In konkreten Haltungen: In der Liebe etwa. Da erfahre ich auch etwas Unsterbliches. Oder in der Dankbarkeit: Wenn ich mich als Empfangender, Beschenkter erlebe, schließe ich alle und alles ein, was mir Gutes tut: Mitmenschen, die Natur, Gott.
Kann das auch in der Meditation zusammenkommen?
Natürlich: Meditation ist – schon im Achten auf den Atem – Verbindung mit dem Leben in Fülle, in der Präsenz des Jetzt. Aber sie ist auch Loslassen, Einübung ins Sterben. Wichtig ist: dass ich nicht an der Erfahrung der Einheit hängen bleibe, sondern mich dann wieder den Aufgaben in der Welt stelle. Wie Paulus sagt: Am liebsten wäre ich aufgelöst und bei Gott, aber um euretwillen ist es gut, zu bleiben.
Sie üben und lehren Zen-Meditation: Hat Ihnen der Osten auch etwas für das eigene Christsein gebracht?
Ich will Zen nicht instrumentalisieren. Und Christentum „braucht“ nicht das Zen. Es geht um ein Miteinander, gemeinsam im Dienst an der Welt auf dem Weg zu sein. Aber das radikale Aufgeben von Vorstellungen, Lieblingsideen und Rollen habe ich im Zen gelernt. Das Wort Jesu „Dein Wille geschehe“ bekam dadurch in meinem Leben eine neue Chance.
Ihr japanischer Zenlehrer Yamada Roshi war ja kein Mönch, sondern Manager bei Shell, später Leiter eines Krankenhauses in Tokio.
Das bräuchten wir heute auch hier: Wirtschaftsleute mit spiritueller Erfahrung. Spiritualität, die ihren Ort mitten im Leben hat. Menschen, die nicht nur sich oder die Welt, sondern sich selber in der Welt finden. Das entspricht übrigens auch der Ignatianischen Spiritualität: Gott in allem und Jedem zu finden. Man kann Gott in allem finden, sogar im Gebet. Yamada Roshi zeichnete sich aber auch aus durch eine fast kindliche Andacht und Frömmigkeit im guten Sinn des Worts. Von ihm habe ich auch die Haltung des Verehrens neu gelernt.
Hat sich Ihre Gotteserfahrung verändert durch Ihre Zenpraxis?
Radikal. Nach einer intensiven Zen-Woche sagte ich meinem Lehrer Lassalle: „Ich kann nicht mehr beten.“ Und er antwortete: „Ja, genau so ist es. Wenn man sich Gott vorstellt, geht es nicht. Wenn man sich Gott nicht vorstellt, geht es auch nicht. Aber bete ruhig weiter, das wird sich wieder einrenken.“ Dadurch habe ich den Zugang zu einer zweiten Naivität gefunden. Ich kann zu Gott beten und ihn mit „Du“ ansprechen, im Wissen, dass es ganz anders ist, als wir uns dies als Menschen vorstellen können. Das Bild, das ich mir von Gott gemacht habe, ist verschwunden. Da ist kein Gott mehr, von dem man genau weiß, wie er ist und wie er sich verhalten sollte. Es ist der je größere, nicht benennbare, mit 1000 und keinem Namen. Er ist ein Du und übersteigt zugleich unsere Vorstellung von Du.
Gibt es Gottesmomente in Ihrem Leben?
Nach diesem großen Einschnitt in meinem Leben, wie diese Operation es war, sind es nicht nur Momente. Es ist fast wie ein Cantus firmus, ein Grundton: Die Welt ist gottvoll. Das, von dem wir getrennt werden können, ist nicht Gott. Diese Erfahrung stellt sich einfach unmittelbar ein.
80% der Jugendlichen sagen, sie können ohne Gott leben, aber nicht ohne Internet. Wie können Sie einer solchen Generation spirituelle Erfahrungen vermitteln?
Nicht durch Predigten. Durch Begegnung mit Menschen, die Weisheit verkörpern, finden sie auch Zugang zur spirituellen Dimension. Denken Sie an den Eindruck, den ein Dalai Lama, ein Roger Schutz oder heute Papst Franziskus gerade auf junge Menschen machen. Sie suchen diese Nähe. Die Rolle älterer, weise gewordener Menschen ist generell nicht zu unterschätzen. Weise sind Menschen, die Dankbarkeit ausstrahlen, die wohlwollend anderen neidlos das Leben gönnen, auch wenn sie Fehler machen.
Weisheit gehört also auch in eine Definition von Spiritualität.
Sie ist zumindest eine Frucht davon. Finden und suchen – beides gehört zur Spiritualität: Dem Leben in allen Formen auf die Beine helfen, anderen achtsam, liebevoll begegnen, ihnen Heimat geben. Aber auch: Wissen, dass ich immer auf dem Weg bin, und auf der Suche bleibe. Also: in die „Hauslosigkeit“ gehen.
Wohin müsste Kirche sich entwickeln, um dem gerecht zu werden?
Kirche ist kein Supermarkt der Selbstfindung, in dem ich mich bedienen kann. Sondern Gemeinschaft, die Leben möglich macht. Eine Gemeinschaft braucht Austausch, Nähe, überschaubare Nachbarschaft. Nötig sind Begegnung, Solidarität, die Bereitschaft des Teilens. Sonst hängt Kirche in der Luft. Anonyme Großstruktur schadet nur. Wichtig ist innere Haltung, der Geist des Evangeliums: die Freude miteinander auf dem Weg zu sein. Nur so wird Kirche Heimat.
Und was ist Heimat für den Einzelnen, der nicht zwischen den Welten zuhause sein kann, so wie Sie?
Gregor der Große hat über Benedikt geschrieben: „Habitavit secum. Er wohnte bei sich.“ Nur wenn ich bei mir bin, kann ich auch zwischen den Welten zuhause sein. Nicht nur zwischen Ost und West, sondern zwischen Innen und Außen, Aktion und Kontemplation, Diesseits und Jenseits. Das gilt für jeden: Wer bei sich daheim ist, kann auch bei den anderen sein und sich den Wellen des Lebens anvertrauen.