Gott in Auschwitz?
Ich will da nicht hin. Nicht zurück an diese graurote Ziegelwand. Nicht dahin, wo meine sonst so starke Freundin steht und weint. Wo sie weint für uns alle. Denn wir haben nicht mal Tränen, nur starres Entsetzen.
Ich will da nicht hin.
Ich will da nicht hin, nicht mal in Gedanken. Denn ich war ja schon da, vor 37 Jahren, in jenem Lager, dessen Namen inzwischen zu einem Synonym für das unaussprechliche Entsetzen geworden ist. Das Entsetzen Gottes über uns Menschen. Das Entsetzen von Menschen über Menschen.
Shoa – das heißt „große Katastrophe, Untergang, Zerstörung“.
Wie harmlos Worte sein können.
Gott?
Da?
Will ER denn da hin?
Ein Riss, der mein Herz zerreißt. Oder Seines?
Dorthin zu dieser grauroten Ziegelwand, wo meine 16-jährige Freundin für uns alle weint, weil nichts, gar nichts anderes mehr zu sagen ist?
Ja, vielleicht gerade dorthin.
Vielleicht ist diese Erinnerung des weinenden jungen Mädchens in Auschwitz eines der stärksten Bilder meines Lebens, das sich mir eingebrannt hat.
Jedenfalls war es dieser Augenblick, der mein Leben verändert hat bis heute.
Nicht gewollt, nicht beabsichtigt.
Aber doch so, dass es zur wichtigsten Frage meines Lebens wurde:
Wie war das möglich?
Wie ist das möglich?
Unsere Großmütter und Großväter. Nicht als Opfer – als Täter in Auschwitz und anderen Orten der Shoa, direkt oder indirekt.
Eine Erinnerung, die mich treibt seit Jahrzehnten und bis heute. Wer sind wir? Was sind wir? Und wer bist Du, Du Gott Israels, dessen geliebtes Volk so preisgegeben wurde?
Und wer bist Du, Du Gott Jesu Christi, dass Du unseren Großmüttern und Großvätern nicht in die Arme gefallen bist, als sie das Zyklon B. in die Belüftungsschächte gekippt haben? Wer bist Du, dass Du den Himmel nicht bersten ließest, als der Rauch aus den Schornsteinen quoll?
Wo warst Du? Warst Du wirklch da? Auch DA?
Wenn wir von „Gottesmomenten“ sprechen, denken wir vielleicht an Sternstunden unseres Lebens. An die erste Liebe. Eine tiefe geistliche Erfahrung voller Licht und Glückseligkeit. An eine „Bekehrung“ gar, die uns blendet mit Schönheit und Kraft.
Ich denke an Auschwitz. An eine Blendung aus Staub und Finsternis.
Ich kann nichts dafür und habe mir das nicht ausgesucht. Ich wollte das nicht – hineingestoßen werden in den Riss, der seit der Shoah die Welt zerreißt.
Ich wollte nicht, dass es mein Herz zerreißt. Wollte nicht, Dass ER mein Herz zerreißt.
Oder war es Seines?
Eine Begegnung, die keinen unverändert lässt.
Und doch geschah es so. Und heute, 37 Jahre später, schreibe ich das so und lasse es mit bangem Herzen so stehen.
Im Allgemeinen sprechen wir von einer Gotteserfahrung dann, wenn diese Erfahrung sich wirklich im realen Leben manifestiert. Keine der biblischen Personen, die dem lebendigen Gott und Seinem Sohn Jesus Christus begegnet sind, niemand von ihnen ist aus dieser Begegnung unverändert hervorgegangen.
Aber ist es legitim zu glauben, dass dieser lebendige Gott sich im Augenblick absoluten Entsetzens und vollständiger Sprachlosigkeit offenbaren kann?
Kann Gott anwesend sein in gefühlter gänzlicher Abwesenheit?
Begriffe können Leere „überkleben“. Einordnung kann die Abwesenheit von Sinn erträglich machen. Aus dem Entsetzen machen wir gern Kategorien, vielleicht Diagnosen, und versuchen so, in unserem gewohnten Leben zu überleben.
Vor allem aber: Wir haben nichts anderes als Worte, um Wortlosigkeit und Nicht-Sprache zum Sprechen zu bringen.
Mitten im Schweigen wird Er Wort
Ich habe auf meiner nun 37 Jahre währenden Suche nach einem Zeichen des lebendigen Gottes in der erlebten Gottesabwesenheit den Wert des Wortes neu erfahren.
Habe überhaupt erst erfahren, dass ER, der Lebendige nicht nur in Seinem Wort ist, sondern, mitten im Schweigen, WORT wird.
Es hat schon einen Sinn, dass die Schöpfung mit dem Schöpferwort „es werde...“ aus dem Tohuwabohu herausgesprochen wird. Schweigen und Wirrnis werden geordnet in Klang und Bedeutung. Es hat schon einen Sinn, dass unser Gott sich im Wort offenbart und dass der menschgewordene Gottessohn Sein WORT ist.
„Nicht die Arche hat Noah gerettet, berichtet eine chassidische Legende, sondern das Wort, denn im Hebräischen bedeutet ,Tewah‘ sowohl Arche als auch Buchstabe. Um Noah vor der Sintflut zu retten, befahl Gott ihm, sich eine Sprache zu machen, die ihm als Obdach und Zuflucht dienen werde.“ (Elie Wiesel in: Worte wie Licht in der Nacht. S. 104., Herder, 2. Aufl., 1987)
Es ist der Buchstabe, das Wort, das unseren Geist aus der Vernichtung retten kann. Wenn Gott sich verbirgt, bleibt uns das Wort, um trotzig neu zu „schöpfen“ – wenn es sein muss gegen Sein Schweigen aus Seinem Schweigen.
Seit 37 Jahren bin ich in der einen oder anderen Weise damit beschäftigt, aus Seinem Schweigen gegen Sein Schweigen anzusprechen.
Nur im Bunde mit Seinem WORT.