BegegnungenHeilende Hände

Dass Spiritualität für Menschen in ihrem Krank- oder Gesundsein bedeutsam ist, das hebt Anemone Eglin auch in ihrem Buch „Handauflegen“ hervor. Im Gespräch mit einfach-leben- Herausgeber Rudolf Walter erklärt sie, warum und wie diese alte christliche Praxis auch heute hilfreich sein kann.

Heilende Hände:
Anemone Eglin, ev. Pfarrerin, Kontemplationslehrerin und spirituelle Begleiterin, praktiziert und lehrt Handauflegen. Sie lebt in Winterthur.© Anemone Eglin privat

einfach leben: „Handauflegen“ – ist das „Geistheilen“? Handelt es sich gar um etwas magisch Esoterisches?

Anemone Eglin: Weder, noch: Der Anspruch ist einerseits bescheidener. Und zum anderen keine Esoterik. Um Missverständnisse auszuschließen: Ich bin Theologin, und Handauflegen ist für mich Auftrag und Verheißung in christlicher Tradition. „Denen, die zum Glauben kommen, werden Zeichen folgen. Kranke, denen sie die Hände auflegen, werden gesund werden.“ Das sagt der Auferstandene (Mk 16). Darauf stütze ich mich, auch wenn natürlich nicht alle Kranken gesund werden. Im 1. Korintherbrief ist ja von verschiedenen Gaben die Rede: So wie die einen die Begabung der prophetischen Rede haben, haben andere die Begabung zu heilen, sagt Paulus. Wobei die Begabung nicht ausschlaggebend dafür ist, ob jemand geheilt wird oder nicht.

Wie haben Sie diese Fähigkeit erkannt?

Ich habe nicht „entdeckt“, dass ich etwas „kann“. Ich habe gespürt, dass das, was ich tue, mich erfüllt. Und dass es Menschen wohltut, auf seelischer, körperlicher oder spiritueller Ebene. Ich würde auch nie sagen, dass ich „heilen kann“. Es geht darum, achtsam und vertrauensvoll mit einer umfassenden Kraft in Berührung zu kommen, die nicht meine eigene ist. Es ist eher eine Form kontemplativer Praxis.

Kontemplation ist ohne Zweck und Ziel. Handauflegen hat aber doch ein Ziel: jemand zu helfen?

Meine Intention ist nicht, in einem konkreten Sinn zu helfen: dass also die Knieschmerzen, Migräne oder Angst verschwinden. Wenn ich das als Plan hätte, würde ich den Prozess stören, dieses Sichöffnen für eine heilende Kraft. Meine Absicht würde sich dazwischen stellen.

Die Leute kommen aber mit konkreten Problemen und erhoffen sich Hilfe.

Daher ist am Anfang das Gespräch wichtig: Ich sage, wie ich das Handauflegen verstehe. Dass wir uns dabei gemeinsam öffnen für diese heilende Kraft. Dass ich aber nicht über die Wirkung verfügen kann. Menschen, die schon länger Schmerzen haben, verstehen mich meist schnell. Sie wissen oft am genauesten: Erst wenn sie versuchen, sich absichtslos zu öffnen, kann sich auch etwas wandeln.

Göttliche Kraft – was meinen Sie damit?

Göttliche Kraft, universale Urkraft, Lebenskraft - all das ist behelfsmäßig formuliert, eine Chiffre. Letztlich kann ich es sprachlich nicht fassen - nur die Wirkung erfahren. Was meint nun Vertrauen auf die göttliche Kraft? Gott ist ja kein Zustand oder statisches Sein, sondern eine gute, allgegenwärtige Kraft. Entscheidend ist für mich, dass ihr die Qualität der Liebe zugeschrieben wird. So verstehe ich die Erfahrungen der Menschen, von denen die Bibel erzählt und in deren Tradition ich selber stehe und handle.

Wie geht das praktisch: Handauflegen?

Das Handauflegen beginnt mit Gebet und Fürbitte. Sie machen dem behandelten Menschen und mir bewusst, dass nicht die eigene Kraft am Wirken ist. Ich knüpfe damit an das uralte Heilritual an, wie es schon die vorchristliche Zeit kannte. Das älteste mir bekannte Zeugnis ist aus Indien: Im Rigveda wird Rudra angerufen, es wird über einem Kranken und für ihn gebetet und dann werden Hände aufgelegt. 

Fließt beim Handauflegen Kraft durch Sie, durch Ihre Hände zum anderen?

Durch mich, aber nicht von mir! Diese Kraft ist ja immer schon da. Auch beim anderen. Und wenn beide sich öffnen, wird das in den Händen auch spürbar. Es wird warm, es kribbelt, es kann kühl werden, auch stechen.

Warum ist die Hand ein besonderes Organ?

Das hat mit der Evolution zu tun. Dadurch, dass wir uns aufgerichtet haben, sind beide Vorderläufe freigeworden. Die Verbindung zwischen Hand und Hirn wurde eng, Denken, Handeln und Sprache sind verknüpft: Die Hand ist nicht nur hochempfindliches Tast-Organ. Sie steht auch für den ganzen Menschen. Wenn ich einen Vertrag mit Handschlag schließe meint das: Ich stehe als ganzer Mensch dahinter. Wenn ich einem Kranken die Hand halte heißt das: Ich wende mich dir als ganzer Mensch zu. In der spirituellen Begleitung von Menschen mit Demenz habe ich das erfahren: Die Berührung entspannt, tröstet und signalisiert einem Menschen: Du bist nicht allein. Darauf reagieren Menschen mit Demenz, beispielsweise indem sie nonverbal die Beziehung zu mir aufnehmen.

War das Ihre Urerfahrung auch für die Geste des Handauflegens?

Nein, das war bei mir die Erfahrung des Segnens. Nicht nur verbal, im Zusprechen, sondern verbunden mit einer Berührung. Als Pfarrerin habe ich erfahren, was das für Menschen bedeuten und wie sie ganz tief berührt werden können.

Wieso ist das Zeichen des Segens heute so verblasst?

Religiöse Riten haben in unserer säkularen Gesellschaft an Bedeutung verloren. Bei uns Reformierten steht zudem das Wort im Zentrum. Mein Vater war Pfarrer, von der Theologie Karl Barths geprägt. Er war sicher ein guter Seelsorger, aber er hätte bei einem Krankenbesuch nie einem Kranken die Hand gehalten. Als er selber am Ende seines Lebens auf der Intensivstation lag und wir Kinder rund um die Uhr bei ihm waren und seine Hand gehalten haben, war seine Reaktion: „Das tut so gut. Warum habe ich das früher nicht auch gemacht?“ Das Bedürfnis ist da. Heute mehr denn je.

Was sagen Sie, wenn Sie jemand „Heilerin“ nennt?

Ich bin Instrument, gebe nur Resonanz. Ich selber bin es nicht, die heilt. Auch eine Stradivari produziert keine eigenen Töne. Das macht die Musikerin: die Kraft, die in diesem Geschehen wirkt.

Am Anfang des Christentums stand ein Heiler, Jesus als Therapeut. Seelsorger verstehen sich heute in der Regel nicht als Therapeuten.

Was sich getrennt hat, sind die Disziplinen, wir sind hochspezialisiert. Doch der Mensch ist eine Ganzheit, und darum geht es bei der Heilung. Physische, psychische, soziale und spirituelle Dimensionen gehören da zusammen. In der Schmerzmedizin hat man sich dafür am weitesten geöffnet.

Wem würden Sie empfehlen, sich Hand auflegen zu lassen?

Jedem. Es kann wohltun, auch wenn man kein bestimmtes Leiden hat. Zu mir kommen Menschen mit seelischen Problemen oder in spirituellen Krisen. Ich habe Migränepatienten, die lange Jahre unter der Krankheit litten und bei denen das Problem dann verschwunden ist. Andere, mit schweren körperlichen Krankheiten, gehen nach dem Handauflegen anders mit ihrer Krankheit um. Alles ist möglich.

Muss man fest daran glauben?

Als eine nahe Bekannte, religiös Agnostikerin und spirituell „unmusikalisch“, nach einem schmerzhaften Unfall operiert wurde, habe ich sie gefragt, ob sie möchte, dass ich ihr die Hand auflege. Sie sagte: „Ich glaube ja nicht dran, aber du kannst es mal probieren.“ Danach meinte sie: „Es ist, wie wenn ein Schalter umgelegt worden wäre. Vorher war ich auf Schmerz fixiert, jetzt auf Heilung.“

Raten Sie manchen Menschen vom Handauflegen ab?

Ja, wenn jemand Angst hat vor destruktiven Mächten, wenn kein Vertrauen da ist, dass es zum Guten wirkt. Vertrauen ist entscheidend: Vertrauen, dass die göttliche Kraft heilsam wirkt.

Nähe, Zuwendung zu geben, ist das auch der Kern der Handauflegungsgeste?

Da wird nonverbal ausgedrückt: Du wirst gesehen, bist wahrgenommen mit deinem Schmerz, deinem Leiden, deiner Freude, als Mensch, als Person. Das spürbar werden zu lassen, ist sicher Teil der heilenden Wirkung. Auf welche Weise, das weiß ich nicht. Vielleicht fehlen uns einfach die Instrumente, das zu beschreiben.

Sie geben Kurse in Handauflegen. Was kann man lernen, was nicht?

Die meisten möchten helfen. Helfenwollen ist aber eher ein Hindernis. Man muss lernen: Es geht nicht um Machen, sondern um Geschehenlassen. Das ist ein Weg, auf dem Demut – Absehen von sich und Mut zur Hingabe - und Vertrauen wesentlich sind. Wichtig zudem: Nichts tun, was der andere als übergriffig empfinden könnte. Entscheidend ist die innere Haltung. Und die lernt man nicht in einem Schnellkurs, sondern durch Übung.

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