Orte des Innehaltens, der Atempause
Als ich zum ersten Mal sehen durfte, wie meine Eltern das rituelle Gebet verrichteten, fragte ich sie, warum sie beide in dieselbe Richtung blickten. Sie gaben mir zu verstehen, dass sie in Richtung Mekka, ausgerichtet zur Kaaba beten. Kaaba war ein Sehnsuchtsort, das las ich in ihren Augen. Nicht irgendein Platz, sondern ein mit tiefen Emotionen aufgeladener Ort. Orte prägen nicht nur unsere Kindheit, sie verbinden sich mit Erinnerungen – und eben auch mit unserer Sehnsucht. Auch im Afghanistan meiner Kindheit gibt es zahlreiche solcher Sehnsuchtsorte. Alle hängen mit der Erinnerung an besonders spirituelle Menschen zusammen. Es gehört zur Tradition des Islams, dass es viele solcher Stätten gibt, die die Menschen anziehen, wohin sie als Suchende pilgern: Mausoleen, Heiligenschreine, die Grabstätten von Propheten und von deren Nachkommen sind solche Orte, ob in Jerusalem, Medina, New Delhi oder in Kerbela. Auch inmitten von Kabul, am Rande einer vielbefahrenen Straße, war eine solche Grabstätte, geschmückt mit bunten Tüchern, duftend nach Rosenwasser. Meine Eltern machten dort immer Halt, berührten die Tücher, hoben mich hoch und beteten. Ohne dass wir wussten, wer genau dort begraben war, war dies, inmitten einer Welt ohne Halt eine spirituelle Haltestelle. Eine Atempause. Unterbrechung des gewohnten Alltags. Ich liebte es, die Menschen hier zu beobachten. Ihre spürbare Sehnsucht erzählte von ihrer Suche nach Frieden, sie war Ausdruck ihrer Hoffnung. Jeder von ihnen verband diesen Ort und diesen Heiligen mit einer eigenen Erzählung, mit einer eigenen Legende. Wenn der spirituelle Weg des Islams den Menschen als ein Wesen der Sehnsucht begreift, bezieht sich diese Sehnsucht nicht auf eine abstrakte Idee, sie ist auch kein Wunschdenken. Dadurch, dass sie sich an Orte bindet, wird Sehnsucht irdisch verankert und menschlich zugänglich.
Wo Suchende Kraft schöpfen
Im Koran wird der Prophet Muhammad an den Propheten Mose erinnert, der vor dem Dornbusch steht, der brennt, aber nicht verbrennt. Mose muss erst seine beiden Sandalen ausziehen, bevor er sich dahin begibt, wo er der Gegen- wart Gottes gewahr wird (vgl. Koran 20,9-12). Ihm wird ins Bewusstsein gerufen, dass es Unterschiede gibt zwischen dem einen und anderen Ort. Erst nachdem er die Sandalen ausgezogen hat, geschieht der Einbruch göttlicher Wirklichkeit, erst jetzt wird Mose von seinem Schöpfer in Anspruch genommen. Ich lernte früh, dass ich meine Sandalen ausziehen soll, bevor ich eine Moschee, eine Grabstätte, ein Mausoleum betrete. Und ich verstand: Mit diesem symbolischen Akt lassen wir hinter uns, was uns sonst repräsentiert: unsere Ämter, unser Hab und Gut, unsere soziale Stellung. Sich Gott zu öffnen, heißt im Kern zu begreifen: Hier darf ich die Masken ablegen – im Angesicht meines Schöpfers. Orte, an denen diesgeschieht, sind Orte der Kraft und Stärke, weil sich hier Sehnsucht und Sehnsucht berühren; Orte, wo viele beten, sind geteilte Orte eines Lebens in Sehnsucht, weil sich hier Suchende versammeln, die im Suchen Kraft schöpfen.
Am Mausoleum des Mystikers
Dabei hat jeder dieser Sehnsuchtsorte seinen eigenen Weg, seinen eigenen Charakter, seinen eigenen Charme und seine eigene Atmosphäre: Hier musizie- ren Menschen, sie singen Lieder, tragen Gedichte vor, rezitieren aus dem Koran, beten und binden Tücher und Tuchfet- zen an die Säulen des Ortes und an ihre eigenen Händen – als Zeichen ihrer Bin- dung an Gott. Heute trage ich selber ein solches rotes Band an meinem Hand- gelenk. Es kommt aus Indien, aus New Delhi, aus dem Mausoleum eines mus- limischen Mystikers mit dem schönen Namen Nizamuddin Auliya (gest. 1325).
Als ich vor Jahren zu seiner Grabstätte pilgerte, war es um mich geschehen. Weihrauch, würzig-süße Düfte beherrschen die Atmosphäre, an einer Ecke sitzen Menschen, die gemeinsam sin- gen, andere meditieren und üben sich im Schweigen, wieder andere sitzen auf dem Boden und lesen aus dem Koran. Bemerkenswert, dass dieser Ort nicht nur Muslime, sondern auch Hindus, Buddhisten und Christen anzog. Etwas verwundert fragte ich einen Mann, der ein sehr großes Kreuz am Hals trug, warum er als Christ zu einem muslimischen Ort gekommen sei. Entschieden entgegnete er, dass dieser Ort nicht mir gehöre. 0b Muslim, Christ oder Hindu – wichtig sei die Kraft, die heilende Schönheit, die aus diesem Ort hervorgehe. Neben der Grabstätte des Mystikers sind auch andere spirituelle Menschen begraben. Bevor ich zu seinem Mausoleum ging, kniete ich für eine Weile vor dem Grab meines geliebten Dichters Mirza Ghalib und verteilte einige Rosen auf seinem Grab. Dann, unmittelbar vor dem Mausoleum von Nizamuddin, packte ein alter Mann meine Schulter und fragte nach meinem Namen, während er ein großes Heft in den Händen hielt. Ich sagte ihm meinen Namen und den Namen meiner Vorfahren. Er blätterte etwas, und dann lächelte er mich an und zeigte mir eine Seite, auf der auch der Name meines Vaters zu lesen war. Ich berührte die Zeile, auf der seine vertraute zitterige Handschrift zu sehen war. Tief berührt schrieb ich meinen Namen darunter. Wird eines Tages auch meine Tochter hier meine Handschrift entdecken können? Warum war mein Vater hierher gepilgert? Welche Sehnsucht hat ihn getragen? Mir wird in diesem Moment bewusst: Sehn- sucht meint auch einen Auftrag. Es gilt, sie weiterzutradieren, um die Sehnsucht für Gott wachzuhalten.
Wie der Nachtfalter die Kerze umkreist
Die bedeutendste Pilgerstätte und den spirituellen Sehnsuchtsort schlechthin stellt für Muslime die Kaaba in Mekka dar. Sie war bereits vor der Entstehung des Islams eine Kult- und Pilgerstätte und Mittelpunkt des bunten religiösen Lebens in Mekka. Seit im Jahre 632 der Prophet Muhammad zum ersten Mal als Muslim nach Mekka pilgerte, pilgern Muslime hierher. Sie sehnen sich zumindest danach, wenigstens einmal im Leben diese Pilgerreise unternehmen zu können. Diese Pilgerreise ist Muslimen, nach Möglichkeit, eine religiöse Pflicht. Im Koran (3,97) heißt es: „Gott hat den Menschen auferlegt die Pflicht zu pilgern zum Haus [sc. Haus Gottes, d.h. nach Mekka zu Kaaba], soweit sie es vermögen.“ Kann Sehnsucht aber verpflichtend sein? Sehnsucht wird immer aus freien Stücken empfunden. Geboten ist allein, dass sich der Mensch auf dem Weg Gottes begeben soll. Daher ist die Bezeichnung der Kaaba als „Haus Gottes“ irreführend, denn sie meint nicht, dass Gott in der Kaaba lokalisierbar ist. Das Wesentliche ist vielmehr der Weg zur Kaaba hin, der mit anderen Pilgern- den geteilte Weg, das Umkreisen, die achtsame Haltung, die sich aus dieser symbolischen Handlung einstellt. Das Haus Gottes, die wahre Kaaba, ist das Herz des Menschen, wie es bereits der Prophet Muhammad sagte. Spirituelles Leben als Umkreisen Gottes, dem wir immer näherkommen, den wir aber nicht erreichen können, wie der Nachtfalter die Kerze, symbolisiert im Islam das Leben auf dem Weg Gottes.
Eine bittere Einsicht
Heute ist für mich in Mekka nicht die Gottesnähe, sondern Gottesferne zu spüren. Die Sehnsuchtsorte in Mekka und in Medina, wo der Prophet Muhammad begraben ist, sind heute von saudischen Wahhabiten besetzt. Ich kann vor dieser bitteren Realität nicht die Augen verschließen. Aber ist nicht der Weg der Spiritualität auch der Weg, auf dem wir schärfer und wachsamer zu sehen lernen? Für mich gehört daher ein Boykott der menschenverachtenden Religionspraxis der sektiererischen Wahhabiten und die Besinnung auf den eigentliche Geist des Pilgerns zusammen: Innehalten, anstatt geistlos und blind etwas nachzuahmen.
Meine Sehnsucht nach Kaaba hat nicht abgenommen. Im Gegenteil. Obgleich sich heute, in Zeiten der Mobilität und des beschleunigten Reisens, die Pilgerreise von früheren unterscheidet, sind die alten Sehnsuchtsorte nicht bedeutungslos geworden. Sie sind aber sehr wohl zu einer Herausforderung geworden, die die Menschen nach dem Sinn und Gehalt dessen fragen lassen, was die wesentliche Pflicht im Angesicht der Sehnsucht ist. Womöglich haben wir die innere Kaaba verloren, ist die Kaaba des Herzens gebrochen auf dem Weg zu den Sehnsuchtsorten. Es bricht mir das Herz, nicht einfach nach Mekka zu pilgern, obgleich ich heute prinzipiell in der Lage wäre und dies eine Pflichtsäule meiner Religion bildet. Am Eingang des Mausoleums des muslimischen Mystikers Rumi in Konya ist zu lesen: „Dieser Ort ist die Kaaba der Liebenden / Wer hier gebrochen kommt, wird ganz“. Gibt es aber, um es mit den Worten von Rabbi Nachman von Bratislav zu fragen, etwas Ganzeres als ein gebrochenes Herz?