Sehnsucht nach dem Ideal
In einer Welt, die als immer komplizierter empfunden wird, sind auch unsere Kirchen, schon rein organisatorisch, immer komplexer geworden. Wer in einer Kirchengemeinde in Berührung kommt mit den verschiedenen Abteilungen kirchlicher Verwaltung, hat wohl schon oft „simplify your church!“ gestöhnt. Das könnte auch die Grundidee der Reformation gewesen sein. Re-Formation heißt: zurück zur alten Form. Dass es doch wieder so einfach werde wie am Anfang. Jesus mit zwölf Jüngern. Zusammensitzen beim Essen. Sich versammeln zum Gebet. Alles miteinander teilen. Kranke heilen. Den Nächsten lieben, ja sogar den Feind. Dasein für andere. Martin Luther hat diese Kirche vor über 500 Jahren in vielfacher Weise vereinfacht. Von sieben Sakramenten hat er vier gestrichen. Das hierarchische System von Pfarrern, Dekanen, Bischöfen, Erzbischöfen und Papst hat er abgelehnt. Ebenso die Ehelosigkeit der Priester oder die Verpflichtung der Mönchsgelübde. Ja sogar die Autorität der studierten Theologen. Jeder Christ und jede Christin sollte die Bibel lesen und verstehen lernen. Jeder sollte Priester sein können, das „allgemeine Priestertum aller Gläubigen“ hat er das genannt. Das war für die Betroffenen kein idyllisches Zurück zur Urkirche. Das war Revolution, Umsturz, Radikalismus. Und so wurde denn auch ein über mehrere Generationen andauernder, furchtbarer Konfessionskrieg daraus.
Alt und neu, vor und zurück
Vereinfachen besteht aus Abschieden. Loslassen tut weh. Es fällt schwer, sich von Dingen zu trennen, die man lieb gewonnen hat, die eher in die Vergangenheit gehören als in die Zukunft. So ging es uns Evangelischen auch mit dem allgemeinen Priestertum aller Gläubigen. Wie an einem Gummiband zog es Gläubige und Priester zurück in alte Gewohnheiten und Hierarchien. Da muss sich Kirche immer wieder aufs Neue reformieren, immer wieder aufs Neue vereinfachen. Vereinfachen kann also gleichzeitig ein Weg zurück sein und ein Vorpreschen in die Zukunft.
Einige Theologen finden es inzwischen falsch, vom „Alten“ und vom „Neuen“ Testament zu sprechen. Alt und neu, Prophezeiung und Erfüllung, das sind aus der Perspektive Gottes unpassende Bezeichnungen. Das eine ist im anderen enthalten, und zwar von Anfang an. Jesus war Jude, so ähnlich wie Martin Luther Katholik war. Und doch haben sie Neues geschaffen. Ich finde auch die Frage müßig, ob die Juden immer noch auf den erhofften Retter warten, und wir Christen nicht mehr. Nein, wir warten nach wie vor gemeinsam. Und sind zugleich erfüllt von der Gewissheit, dass er längst gekommen ist, in jeder und jedem von uns. Das Reich Gottes ist mitten unter euch, sagte Jesus, ist mitten in euch. Woran kann man überhaupt erkennen, ob der angekündigte Retter gekommen ist? An der Kirche kann man es sehen, heißt es, an der sichtbaren Gemeinschaft der Christen. Aber wie sieht diese Kirche heute aus? In den Kirchengebäuden versammeln sich immer weniger Menschen, Gottesdienste haben viel von ihrer früheren Anziehungskraft verloren. Selbst bei den großen Treffen wie Kirchentagen und Katholikentagen gehen die Zahlen zurück. Viele verlassen ihre Kirche für immer, sie kündigen die Mitgliedschaft. Doch trotz allem existieren die Kirchen. Sie sind nach wie vor eine große gesellschaftliche und religiöse Kraft. Ganz offensichtlich lässt sich die Macht einer Gemeinschaft nicht so einfach in Besucher- oder Mitgliedszahlen messen.
Der innere Meister
Ich habe gelernt, dass ein Christ Gemeinschaft braucht. Zugleich habe ich erfahren, dass das menschlich-allzu-menschliche Miteinander in einer Gemeinde mich auch runterziehen kann. Entscheidend ist für mich die Gemeinschaft mit Jesus Christus als innerem Meister geworden. Diese intensive Verbundenheit mit Jesus Christus ist für mich der innerste, tiefste Kern der Sehnsucht nach einer vereinfachten Kirche: eine Gemeinschaft von Menschen, die verbunden sind mit Jesus Christus, ob sie es laut bekennen oder nicht. In so einer Herzenskirche spielen Konfessionen keine Rolle mehr. Hier geht es nicht mehr um Dogmen und Glaubensfragen, sondern um Liebe und Verbundenheit. Liebe träumt von der letztgültigen Vereinigung, der ganz großen Einfachheit. Dieser Traum aber bleibt unerfüllt. Denn diese Welt ist nicht einfach, niemals. Unser Körper ist ein unvorstellbar komplexes Ineinander von Billionen von Zellen, Millionen mal Millionen. Jede einzelne dieser Zellen ist ein Lebewesen für sich, das wiederum aus Billionen von Molekülen besteht und in dem komplizierteste Regelkreise ablaufen, hunderte in jeder Sekunde. Jeder Körper eines Menschen oder eines Säugetiers ist gleichsam ein Planet für sich. Und zu den überraschendsten Entdeckungen der Gehirnforschung in den letzten Jahrzehnten gehört die Einsicht, dass es in diesem Gehirn keine Zentrale gibt. Jeder Nerv, jede Zelle, organisiert sich gleichzeitig auch selbst. Jeder Zellverbund, jedes Organ, ist in jedem Moment zugleich selbstständig und von anderen beeinflusst. Schon der Apostel Paulus hat in diesem Zusammenspiel der Teile unseres Körpers ein Gleichnis gesehen für die Gemeinschaft der Christen: „Das Auge kann nicht zur Hand sagen: Ich brauche dich nicht. Der Kopf wiederum kann nicht zu den Füßen sagen: Ich brauche euch nicht.“ Zusammen, sagt er, sind wir der Körper Christi. Seit er nicht mehr auf der Erde ist, sind wir er. Nein, eine wirklich einfache Kirche wird es nie geben. Es wird immer in ihr menscheln. Es wird immer Diskussionen geben, Spaltungen und Kooperationen, Streit und Versöhnung, und Kompromisse. Immer wieder träumen Christen von einer starken einheitlichen Kirche mit straffer zentraler Leitung. Aber sobald sich jemand als so ein zentraler Leiter aufspielt, gibt es heftigste Proteste. Kirche bleibt ein lebendiger, sich verändernder und ständig gefährdeter Organismus, so wie unser eigener Körper. Und gerade dadurch ist er der Körper Christi.
Verbunden in aller Verschiedenheit
Also Abschied nehmen von der Idee „simplify your church“? Nein. Es gibt keine endgültige Einfachheit, kein vollkommenes Glück. Es kommt auf die Richtung an. Entscheidend ist die Bewegung, die zugeht auf Einfachheit und Glück: Es soll nicht noch komplizierter werden, sondern einfacher. Wir werden lernen müssen, Verschiedenheit auszuhalten, überall, auch mitten in unseren Kirchen. Doch wir sind dabei unterwegs auf einem Weg, bei dem sich viele wunderbare Entdeckungen machen lassen. Ich habe das während meines Lebens als Christ auch mit dem Glauben erlebt: Er ist immer einfacher geworden. Am Anfang habe ich die vielen Außenseiten des Glaubens gesehen: Gottesdienst, Abendmahl, Konfirmation, Lieder, Gebete, biblische Geschichten, Rituale, Treffen, Feste, Institutionen, Hilfswerke, Organisationen, Spenden. Später, als Theologiestudent und Pfarrer all die philosophischen Hintergründe, die Lehre vom Opfertod Christi, von der Sündhaftigkeit des erlösungsbedürftigen Menschen, von der Dreieinigkeit, von den Konfessionen, dem Amtsverständnis, und was nicht noch alles. Vieles davon ist in den Hintergrund gerückt. Geblieben ist eine zu Herzen gehende, unverwechselbare Melodie: das Lied von der Stärke der Liebe, von der Macht der Machtlosigkeit, von der Menschlichkeit Gottes. Das ist es, was uns verbindet, bei aller Verschiedenheit. Solange es Christen und Kirchen gibt, haben sie danach gesucht, diese Verbindung zu formulieren. Glaubensbekenntnisse sind daraus entstanden, um jede Formulierung darin wurde lange gerungen. Doch wenn ich zurückdenke, hat mich dieses Bekenntnis immer merkwürdig kalt gelassen. Und ich weiß, dass es anderen ähnlich geht.
Was ließe sich stattdessen als Verbindendes finden? Der Menschensohn Jesus natürlich. Er verbindet uns. Nicht die Rede über ihn, sondern was er selbst gesagt hat. Am einfachsten zusammengefasst in dem Gebet, das er uns gelehrt hat, dem Vaterunser. Dort ist nicht die Rede von Opfer oder Sünde, von Buße oder Zwang, sondern von Brot, Vergebung, Kraft. Ich habe das Vaterunser unzählige Male gesprochen. Wirklich verstanden habe ich es nie. Gerade dadurch hat es seine Kraft und seinen Zauber behalten. Es erinnert mich an einen fernen und doch vergleichsweise nahen Himmelskörper: Der Mond ist eine dunkelgraue Kugel. Er leuchtet nicht, sondern wird beleuchtet von der Sonne. Auch unsere Kirchen werden von einem überhellen Licht beschienen, und erst das lässt sie strahlen. Das haben sie gemeinsam mit uns Menschen.