einfach leben: Sie haben am Kantonsspital St. Gallen über 1000 Menschen in der letzten Phase des Lebens intensiv begleitet. Was hat Sie auf die Spur des Themas Versöhnung gebracht?
Monika Renz: Wie bedeutsam es ist, darauf bin ich bei der täglichen Arbeit gestoßen. Ich habe es dann, da es kaum Hilfestellungen, kaum wissenschaftliche Literatur dazu gibt, auch zum Gegenstand eines Forschungsprojekts gemacht. Natürlich spielen sich Streit, Verletzung, Konflikt immer auch mitten im Leben ab. Dennoch gehen nur schätzungsweise 15–30 % der Menschen das Thema „Versöhnung“ aktiv in ihrem täglichen Leben an. Beim Sterben hingegen ist es fast jeder. Themen, die auf die lange Bank geschoben oder verdrängt wurden, verdichten sich, wenn es auf das Sterben zugeht. Menschen haben jetzt in neuer Intensität oder erstmalig das Bedürfnis: So möchte ich nicht sterben. Ich möchte Frieden.
Es ist also ein Blick auf die Gesamtheit des Lebens. Gibt es spezifische Konfliktsituationen?
Es sind im Grunde dieselben wie während des Lebens: Probleme in der Partnerschaft, in der Familie, im Umgehen mit dem eigenen Schicksal, etwa der Krebserkrankung, Hadern mit Gott, frühere Erfahrung von Gewalt oder Missbrauch, die genau jetzt in der Ohnmacht des Patientendaseins hochkommen. Aber jetzt bewegen Endgültigkeit und Unausweichlichkeit im Tod zum Frieden. In unserem Forschungsprojekt haben 49 von 50 Patienten, die vorher ernsthafte Konflikte formuliert hatten, mindestens einmal eine Erfahrung von Versöhnung und/oder Vergebung gehabt. Doch das geht nicht einfach so. Es gibt auch da Vermeidung und Krise. Und es braucht eine tiefe Motivation oder Hoffnung. Es ist ein Prozess. Entscheidend: Die Erfahrung von Hoffnung bildet eine eigene markante Phase in diesem Prozess. Und es ist dann immer auch eine Entscheidung, sich der Versöhnung zu stellen.
Braucht es einen äußeren Anstoß, einen Impuls, um Hoffnung zu erfahren?
Manchmal ja. Es kann aber auch innere Hoffnungserfahrung sein, etwa ausgelöst durch einen Traum. Oder auch, dass da plötzlich eine Drittperson – ein Arzt, eine Therapeutin, ein Seelsorger – in Erscheinung tritt, mit denen eine neue Offenheit möglich wird: Wenn ein Dritter mich und die andere Person zusammensieht, dann kann ich dem Prozess eine Chance geben. Es ist – wie etwa beim Gericht oder in der Therapie – eine andere Instanz, der ich vertraue: eine Person, die mich anhört, in meinen Verletzungen versteht, mich stärkt und dann auch eine Verbindung schafft.
Welches Bedürfnis steht dahinter?
Auf den ersten Blick das Bedürfnis, verstanden und gewürdigt zu sein. Tiefer betrachtet aber ist es das Bekenntnis, dass Menschen auf Verbundenheit angelegt sind: mit anderen, mit sich selber, mit einem Ewigen, so der Psychotherapeut und Neurologe Konrad Stauss, ob sie es nun Schicksal nennen oder Gott. Ist eine Beziehungsdimension gestört, sind die anderen in Mitleidenschaft gezogen. Versöhnung und Vergebung haben zu tun mit dem Bedürfnis, wieder in dieses Gefühl der Verbundenheit hineinzufinden, nicht weiter eingepanzert zu leben. Nichtversöhntsein hat ja, über den eigentlichen Konflikt hinaus, Konsequenzen: Es verhärtet mich körperlich, macht mich seelisch bitter. An der Schwelle des Todes taucht das Bedürfnis auf, noch einmal neu, anders zu leben, weich zu werden. So entsteht die Brücke: Ich öffne mich, möchte neu auf den anderen zugehen. Und gerade dann kommt es zur Erfahrung der Befreiung, ja zu einem neuen Lebendigwerden.
Wenn Versöhntsein das Ziel ist: Was ist der Weg dahin?
Der mutigste Akt ist Vergeben. Das ermöglicht oft den Prozess der Versöhnung erst. Das versöhnte Sein ist, wenn der Friede statt finden kann.
Wichtig ist also, aufeinander zuzugehen. Wenn der andere aber nicht will? Oder schon gestorben ist?
Es gibt auch einseitige Versöhnung, die dann wesentlich Vergebung mitbeinhaltet. Auch wenn schon so viel zerstört ist, dass man nicht „wiedergutmachen“ kann, kann ich allein diesen Weg gehen, im Wissen um Gott oder im Verbundensein mit einem „Letztlichen“. Denn selbst wenn Versöhnung vergeblich scheint, ist sie es – spirituell gesehen – nicht. Menschen, die das wagen, haben eine besondere Ausstrahlung, eine innere Würde. Mit Hannah Arendt gesprochen: „Wenn wir vergeben, wird nichts mehr so sein, wie es war.“ Neues wird möglich.
Warum ist es so schwierig, sich zur Vergebung „durchzuringen“?
Das Wort sagt schon, dass es nicht ganz einfach ist. Denn vielleicht weiß ich am Schluss nicht mehr so genau, was richtig war. Ich gebe die Position auf, dass ich (allein) im Recht bin. Vielleicht hat der andere auf ganz andere Weise auch recht? Ich bin also bereit, meine Dominanz aufzugeben. Das fällt schwer. Was ich immer mehr beobachte: dass Menschen nur selten mitten im Leben vergeben.
Dabei heißt es im Matthäusevangelium: Man solle seinem Bruder nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal vergeben. Ist Vergeben hier nicht das Allerselbstverständlichste?
Nein. Es wird als das Allerschwierigste gesehen. So schwierig, dass man es immer wieder üben soll. Wofür? Weil es so befreiend wäre!
Aber bereits im Vaterunser heißt es: „Vergib uns, wie auch wir vergeben ...“ Da wird das Vergeben als spirituelle Notwendigkeit in den Alltag gestellt.
Fragen Sie mal, was die Menschen empfinden, wenn sie diesen Satz beten. Die meisten werden sagen: „Es stimmt so nicht. Ich sage es zwar, aber ich mache es nicht wirklich.“ Sie werden das zumindest nicht als Beschreibung ihres tatsächlichen Verhaltens empfinden. Ich erschrecke immer wieder – auch bei mir selber – darüber, wie schwer Vergebung ist. Für mich hängt das zusammen mit der Gewohnheit, zu verdrängen, mit fehlender Perspektive zur Hoffnung. Und im innersten mit dem Thema Scham. Wir können – vor uns selbst – nur schwer zulassen, dass auch wir Fehler gemacht haben. Es fällt schwer zu sagen: Es tut mir leid. Ich war zu hart, zu selbstbezogen. Ich bitte um Vergebung. Und wenn mir Wunden zugefügt wurden, fällt es sehr schwer, zu sagen: Ok, es ist jetzt so – und ich nehme das einfach an. Ich will dem Leben – und irgendwann vielleicht sogar dem Täter – vergeben.
Wer sich schämt, empfindet Schwäche. Vergeben ist aber doch Stärke?
„Ich bitte um Vergebung“, meint: Ja, ich sehe, dass ich eine Schwäche habe. Aber auch „Ich vergebe“ heißt: Ich möchte nicht verhärtet weitergehen, ich riskiere Vergebung. Ich sage Ja dazu, dass ich verwundet bin. Eigentlich ist es ja die größte seelische Stärke, dies zu akzeptieren und Schwäche auszuhalten.
Wenn mit dieser Argumentation dem Opfer zugemutet würde, zu vergeben – ginge da nicht die Gerechtigkeit verloren?
Mich überzeugt Bischof Tutu, der sagt: Vergebung ja, aber nicht vorschnell. Es kann ein schmerzvoller Weg sein, bis man merkt: Ich gewinne, wenn ich jetzt vergebe. Es geht nicht um falsche Nächstenliebe. Auch nicht darum, ein Gebot umzusetzen. Es ist weder einfach noch selbstverständlich. Es braucht den rechten Moment, das Gefühl: Es ist „dran“, jetzt zu vergeben. Und es braucht die Hoffnungserfahrung.
Ist es da nicht ein Unterschied, ob man den Blick auf die Täter oder auf die Opfer richtet?
Auch Täter sind Menschen und brauchen eine Chance. Wir alle haben Täter- und Opferanteile in uns. Opfer brauchen in erster Linie: Verstehen, Anerkennung, Umarmung, Heilung. Die Täter brauchen Vergebung. Sie brauchen eine Chance, damit auch sie hinein finden in ein neues Verhalten, welches sie glaubwürdig macht. Ich sage damit nicht: Es ist nichts passiert. Oder: Es war nicht so schlimm. Nein! Es war sehr schlimm! Reue geschieht, indem wir fühlen. Das ist hart.
Was ist das Entscheidende daran, wenn wir Vergebung erfahren?
Es ist wie ein Sprung in die Liebe hinein. Nichts ist ungeschehen. Aber das Verhärtete kommt wieder in Fluss. Inwendig geschieht Neues. Ich denke an einen sterbenden Politiker, der in schwierigen Beziehungen lebte. Er sagt es so: Er habe seine letzte Rede vorbereitet, die werde er nicht mehr selber halten. Und: Er sei selbst verwundert, er sei völlig entschieden, zu lieben. Der Friede, den dieser Mann ausströmte, war überwältigend.