Mein Augenöffner
Eigentlich hat mich erst ein Vergleich aufgeweckt für bewusste Dankbarkeit. Vergleichen begründet zwar kein Glück. Aber seine Situation auf einer Folie von Anderem wahrzunehmen und zu realisieren, dass die eigene Welt eigentlich auch anders sein könnte – das verändert die Perspektive. Ich hatte schon von der brutalen Unterdrückung von Musikern wie Schostakowitsch unter dem Stalinismus gehört. Nur, das blieb abstrakt. Aber als ich – eine Jugendliche – eine Konzertreise nach Lettland machte, damals, zur Zeit des Eisernen Vorhangs, ein kommunistisches Land, hat mich das tief bewegt: die spürbare Unterdrückung, die Angst allenthalben, die sichtbare Armut, der Zwang, die Situation akzeptieren zu müssen. Zu sehen, mit wie wenig die Menschen klarkommen mussten, mitzubekommen, dass etwa der Schwiegervater meiner lettischen Cellokollegin keine Medizin für sein krankes Herz kaufen konnte: Das hat mir damals die Augen geöffnet für meine privilegierte Situation, dafür, wie viel Freiheit und Möglichkeiten es in meinem Lebensraum gab, wie gut ich es hatte. Und dass das nicht selbstverständlich war.
Spannende Herausforderungen
Dass man selber so leben kann, wie man will, dass man seine Freude leben kann – in der Musik habe ich das oft erlebt, seit meiner Kindheit. Dass ich Musik machen kann, und dass das bis heute immer neu aufregend und spannend ist – das ist für mich das Schönste: Als Jugendliche war ich immer unzufrieden, wenn meine Eltern begeistert waren, „wie schön“ ich spielte. Ich wollte kritisiert werden und Fortschritte machen. Heute bin ich meinen Eltern natürlich auch für diese vorbehaltlose Zuwendung dankbar. Der Musiklehrer an der Musikakademie – 20 Studenten und 8 Lehrende waren wir, welches Privileg! –, hat den Horizont erweitert, hat uns kritisiert, hat gezeigt, wie etwas klingen könnte, wie es noch authentischer sein würde. Auch für diese pädagogische Großzügigkeit bin ich dankbar. Heute sind es die großen Komponisten der Vergangenheit und vor allem die Komponisten der Avantgarde, die mich als Musikerin immer vor neue Herausforderungen stellen. Gestern etwa haben wir eine Trio-Aufnahme im Tonstudio gemacht, und immer wieder probiert, bis wir wirklich zufrieden waren. Am Tag davor hatten wir für ein Beethoven- Konzert geprobt und verschiedene historische Instrumente ausprobiert. Entschieden haben wir uns noch nicht. Den Weg zu finden, macht Spaß.
Nichts ist für die Ewigkeit
Spaß ist nicht Dankbarkeit. Aber ich bin dankbar, dass ich etwas machen darf, was so viel Lebendigkeit bringt. Ich liebe Musik. Ich liebe es, den Ausdruck der Musik zu suchen, möglichst gut wiederzugeben, was den Komponisten vorschwebte. Das bedeutet, mehrere Stunden am Tag zu üben. Aber auch diese Herausforderung ist Freude. Ich weiß, dass ich diese professionelle Art des Musikmachens einmal werde aufgeben müssen. Aber jetzt habe ich noch die Kraft und die Möglichkeiten, ich mache noch die Erfahrung, „gefragt“ zu sein. Klar: Nichts ist für die Ewigkeit, gar nichts. Aber auch dieses Bewusstsein, dass – in unserem Leben – nichts für die Ewigkeit ist, gehört zu den kostbaren Dingen.
Und meine kleine Dankbarkeit
Das ist meine „große“ Dankbarkeit. Und meine, vielleicht mindestens gleich wertvolle „kleine“ Dankbarkeit: Zum Beispiel Weihnachten mit einer wunderbaren Familie verbringen. Dieses Fest haben wir immer zusammen gefeiert, seit ich mich erinnern kann. Ich bin dankbar, dass diese Tradition nicht abbricht, auch wenn ich im Ausland lebe. Es ist schön, dass es mit allen Nichten und Neffen weitergeführt wird. Dass meine Mutter, bei der wir früher waren und die heute in einem Altenheim lebt, auch dazukommt und mitfeiert. Auch dass ich ein Patenkind habe, mit dem ich mich treffe seit sie vier Jahre alt ist. Heute ist sie 27, und ich bekomme mit, wie sie die Welt sieht. Ich finde es großartig, dass unser Vertrauensverhältnis mit all den Jahren gewachsen ist. Gerade wenn man keine eigenen Kinder hat: Impulse von jungen Menschen sind die reine Freude. Zu spüren, wie sie mitdenkt, wie sie immer neue Verantwortlichkeit entwickelt, wie kreativ sie ist. Vielleicht ist auch das nicht für die Ewigkeit – aber jetzt ist es schön. Und auch dafür bin ich dankbar.