einfach leben: Zunächst ganz äußerlich gefragt: Wenn man von „Popularität“ der Hochfeste sprechen würde, lägen Weihnachten und Ostern vor Pfingsten. Warum?
Michael von Brück: Pfingsten ist nicht so im Alltagsleben der Menschen und im Brauchtum verwurzelt. Trotzdem lieben Menschen dieses „liebliche Fest“, wie Goethe es im „Reineke Fuchs“ nennt. Es ist übrigens durchaus auf Ostern bezogen: 50 Tage nach Ostern ist die Natur fortgeschritten. Ostern ist der Anfang: das Knospen. Pfingsten ist das Strahlen: das Blühen, die Fülle. Anders als an Weihnachten gibt es an diesem Fest keine Geschenke. Aber das Besondere an Pfingsten ist ja: Sein Inhalt ist immateriell, geistig, also zunächst einmal abstrakt. Es geht da vor allem um die Universalisierung des Christusgeschehens und der Menschwerdung Gottes. Pfingsten hat zuallererst eine Erlösungsdimension.
Es ist also vor allem auf dem Hintergrund der Menschheitsgeschichte zu sehen?
Es ist eine Gegenerzählung zur biblischen Urgeschichte, die vom Sündenfall bis zum Brudermord und dem Turmbau zu Babel reicht und die vom menschlichen Hochmut und seiner zerstörerischen Wirkung berichtet. Im Turmbau zu Babel ist die Verwirrung der Sprachen Folge des menschlichen Egozentrismus: Die menschliche Gesellschaft fällt auseinander.
Das wirkt aktuell, auch in Zeiten der Globalisierung. Die Pfingstgeschichte wird zum positiven Gegenbild. Da passiert etwas Wunderbares.
In der Tat: Da entsteht Zusammenhalt. Die Menschen verstehen sich in dieser biblischen Erzählung plötzlich neu. Sie reden in Zungen – das heißt: Sie verstehen einander in einer spirituellen Dimension. Es geht bei diesem Pfingstwunder um das Erkennen der Einheit der Welt, der Verbundenheit der Menschheit im Geist, trotz der sprachlichen Verschiedenheiten und bei aller Vielfalt von Kulturen und Religionen. Das ist aktueller denn je.
Die Jesusgeschichte ist konkret. Pfingsten zielt auf Universalisierung. Geschieht da nicht ganz Unterschiedliches?
Nein, beides gehört zusammen, Universalität und Konkretheit. Die Menschwerdung Gottes im Stall zu Bethlehem geschieht nicht in „die Menschheit“ hinein, sondern in dieses ganz konkrete Volk, diesen konkreten Stamm „aus der Wurzel Jesse“. Das Wunderwirken Jesu geht – denken Sie an den Hauptmann von Kapharnaum – schon darüber hinaus, bis in die Römische Welt hinein. In der Pfingstgeschichte haben wir die umfassende Universalisierung, weil der Geist dort über Hunderte kommt und die Trennung durch Stammes- Kultur-, Religions- und Sprachloyalitäten aufgehoben ist: Das Heil gilt für alle.
Wir leben in, wie es scheint, heillosen, jedenfalls in verschreckten Zeiten. Geht es in der Pfingstgeschichte nicht auch um die Stärkung einer Gemeinschaft Verschreckter?
Ich sehe die Pfingstgeschichte tatsächlich auch im Zusammenhang mit der Emmausgeschichte: Die verunsicherten, frustrierten Jünger erkennen Jesus wieder – beim Mahl, beim Brechen des Brotes. Essen ist ja – von der Eucharistie bis zur alltäglichen Essenseinladung – das Ritual der Gemeinschaft schlechthin. Die Universalisierung des Geistes bedarf also der konkreten Erinnerung, um die Kontinuität aufrechtzuerhalten und die widersprüchlichen Geister zu unterscheiden.
Wenn man einem Zeitgenossen, der nicht religiös ist, erklären müsste, was „Geist“ ist: Woran könnte man – auch in der gegenwärtigen Situation – anknüpfen?
An die Erfahrung jedes Menschen und an Fragen, die sich gerade jetzt verschärft stellen: Geist ist die Entgrenzung aus meinen Verstrickungen in Egoismus, Hass, Missgunst und Abgrenzung. Die Frage ist doch: Wer bin ich eigentlich? Bin ich diese verzagte und gerade darum oft aggressive Figur, die nie verwirklicht, was in ihr angelegt ist, und die damit beschäftigt ist, sich selber durchzusetzen? Oder erlebe ich meine geistige Präsenz als das, was durch mich hindurchgeht, eine Freude, die mich entgrenzt? Das griechische Wort dafür ist „ekstasis“: das befreiende, beglückende Heraustreten aus einer eingeschränkten Identität, hinein in einen großen Zusammenhang. Davon erzählt die Pfingstgeschichte.
Gibt es eine bestimmte Pfingstfreude?
Sie liegt genau darin. Dieses Geist-Wirken hat ja emotionale Kraft. Das Bild von Wind und Sturm, ein Element, das alles durchdringt. Auch das Bild der Feuerzungen: die Kraft, die umformt. Eine innere Kraft, die einen wie die Liebe von außen und innen zugleich ergreift. Pointiert gesagt: Es ist die Kraft der Liebe, die an Pfingsten lebendig wird.
Nicht nur Weihnachten, auch Pfingsten ist also ein „Fest der Liebe“?
Liebe als spirituelle Energie ist universal, sie umschließt auch das, was mir emotional nicht so nahe steht. Sie bezieht sich auf die ganze Schöpfung, die das Siegel göttlicher Präsenz hat. Liebe ist die Grundstruktur des Universums. Alles was ist, vom Elementarteilchen bis zum menschlichen Bewusstsein, ist, was es ist, nur im Kontext von anderem, in enger Beziehung zu anderem, in wechselseitiger Abhängigkeit. Darin die eigene Identität zu erkennen, das ist spirituelles Erwachen. Darin zeigt sich die Kraft der Liebe. Pfingsten heißt: davon inspiriert sein.
Also ein Verständnis von Geist, das mit dem „normalen“ Verständnis von Rationalität nichts zu tun hat.
Es hängt davon ab, was wir unter Rationalität verstehen. Die physikalische Relativitätstheorie, die Quantenphysik, das systemische Denken in Psychologie und Sozialwissenschaften denken ja nicht mehr monokausal: eine Ursache – eine Wirkung. Sie beschreiben die Dynamik von Wechselwirkungen. Das ist ein Denken, das strukturell gleich ist mit dem, was in metaphorischer Sprache als Geist oder Liebe formuliert wird.
Pfingsten als Fest, das mit Liebe und blühendem Leben verbunden ist: Kann man das in Zeiten von Corona und angesichts der Ökokatastrophe noch erfahren oder vermitteln?
Sicher ist für mich: Ohne ein Leben aus dem Geist der Pfingstereignisse heraus, kann eine Wende nicht gelingen. Voraussetzung ist, dass Menschen kreativ und nicht destruktiv mit der Welt umgehen und einsehen: Leben ist nur in Gemeinschaft möglich. Egoismus ist immer zerstörerisch, in der Krise ist er fatal. Die Weisheit, eingebunden zu sein in das Wechselgeschehen mit der Natur ist auch eine Konsequenz aus der wunderbaren Erfahrung der Schönheit der Natur, die wir in dieser Jahreszeit erleben.
„Komm Schöpfer Geist“ – wenn wir das singen, nach der Erfahrung der Krise, um welchen Geist bitten wir da?
Es ist eigentlich eine Einladung: Erfülle mein, unser Bewusstsein mit der Einsicht in das Prinzip der Schöpfung, die Realisierung der wechselseitigen Verbundenheit. Es wird eine unabdingbare Aufgabe der Menschheit werden, bei Niedergang des ressourcenabhängigen materiellen Wohlstands einen Ausgleich durch immateriellen Wohlstand beziehungsweise spirituellen Reichtum zu schaffen. Wertschöpfung bedarf der Ergänzung durch Schöpfungswert. Kreative Kraft und Mut zum Wagnis der gemeinsamen Umgestaltung auf der Grundlage des rational Einsichtigen – das ist die Art und Weise, wie sich Menschsein individuell wie kollektiv bewusst gestaltet.
Geist also verstanden als praktische Einsicht in die Wirklichkeit, wie sie ist. Und die Rolle der schöpferischen Phantasie – als Brücke in eine bessere Zukunft?
Phantasie als schöpferische Freude ist die wunderbarste Fähigkeit des Menschen. Die Phantasie überbrückt die negativen Zustände, entwirft Utopien von Rettung. Raumbezogene Utopien, die etwa in unserer heute ganz und gar vermessenen Welt auf den extraterrestrischen Raum, den Mars zielen, überzeugen nicht mehr. Zeitbezogene Utopien, etwa die Hoffnung auf einen kommunistischen Endzustand, sind desavouiert. Es bleibt die dritte Dimension der Utopie: das Bewusstsein, die Bewusstseinsveränderung des Menschen. Vielleicht könnte man das die Pfingst-Utopie nennen: dass der göttliche Geist den Menschen erfasst und von innen her verändert. Das Gesetz ist dann in das Herz des Menschen geschrieben, Jeremia, 31. Kapitel. Dass Gott im Menschen wohnt und sein Handeln bestimmt: Das ist die entscheidende Konsequenz von Pfingsten. Gerade heute.