Fragen der ZeitWas können wir gegen die Spaltung der Gesellschaft tun?

Oft wird heute beklagt, dass unsere Gesellschaft zunehmend von Zerwürfnissen, von Brüchen und Absonderung geprägt ist. Was sind nach Ihrer Beobachtung die Gründe? Und was hält die Gesellschaft – oder eine heterogene Gemeinschaft – wirklich zusammen?

Was können wir gegen die Spaltung der Gesellschaft tun?
© Amal Ben Saad

Viele sind verunsichert

Es gibt verschiedene Gründe für die zunehmende Spaltung der Gesellschaft. Da ist einmal die Unfähigkeit, auf den anderen zu hören, den anderen gelten zu lassen. Diese Unfähigkeit rührt daher, dass sich die Menschen durch die aktuell so unübersichtliche weltpolitische Lage und durch die Corona-Krise verunsichert fühlen. Man will sich aber diese Verunsicherung nicht eingestehen. Daher versteift man sich auf seine Meinung. Die nicht mehr hinterfragbare Meinung gilt gleichsam als Ersatz für die verlorene Sicherheit. Indem ich meine Meinung absolut setze, halte ich mich an einem festen Pfahl fest. Und da die Welt schwer durchschaubar ist, versucht man, sie nach eigenem Gutdünken zu erklären und hält dann die eigene Erklärung für absolut. Damit weigere ich mich, die Unsicherheit und die Verschiedenheit der Menschen auszuhalten.

Eigene Schattenseiten annehmen

Die Spaltung der Gesellschaft hat noch eine andere Ursache. In der Psychologie weiß man: Wer in sich gespalten ist, der spaltet auch die Gemeinschaft um ihn herum. Die Spaltung in mir entsteht, wenn ich mich weigere, die eigene Wahrheit anzuschauen. Man identifiziert sich mit einem Idealbild von sich selbst, weil man Angst hat, die eigenen Schattenseiten wahrzunehmen. Die Psychologie fordert uns heraus, die eigenen Schattenseiten anzunehmen. Doch viele trauen sich nicht, in das eigene innere Chaos zu schauen. Der Glaube, dass ich bedingungslos angenommen bin, könnte mir helfen, alles – auch das Dunkle und Chaotische – in mir anzunehmen. Nur mit sich versöhnte Menschen können dazu beitragen, dass auch die Gemeinschaft versöhnt wird.

Gemeinsame Werte erfahren

Um den Zusammenhalt einer heterogenen Gemeinschaft zu ermöglichen, bedarf es gemeinsamer Werte. Werte machen eine Gesellschaft wertvoll. Und Werte verbinden die Menschen miteinander. Daher braucht es eine Wertediskussion. Was sind unsere gemeinsamen Werte? Und wie können wir diese Werte authentisch leben? Und es braucht die Erfahrung einer inneren Einheit. Thomas Merton hat 1968 kurz vor seinem Tod in einem Vortrag vor verschiedenen Religionsvertretern gesagt: „In der Tiefe sind wir schon eins.“ Es kommt darauf an, diese innere Einheit wachzurufen und an sie zu glauben. Wenn ich spüre, dass wir trotz aller Meinungsverschiedenheiten, trotz aller gegenteiligen Interessen auf dem Grund unserer Seele eins sind, dann relativieren sich die Gegensätze. Und wir dürfen hoffen, dass diese innere Einheit langsam auch ins Bewusstsein tritt und Brücken zueinander baut. Zumindest hilft uns die spirituelle Erfahrung der inneren Einheit, die Gegensätze und Verschiedenheiten zu relativieren und trotz aller sich widersprechender Interessen an eine gemeinsame Zukunft zu glauben.

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