Leben als WandelDie Krise der Lebensmitte

C.G. Jung war der erste Psychologe, der sich intensiv mit der sogenannten „midlife crisis“ beschäftigt hat. Er setzte die Krise der Lebensmitte zwischen 35 und 45 Jahren an. Heute beobachten wir diese Krise eher im Lebensalter zwischen 40 und 50 Jahren. Wie kann diese Krise zu einer Entwicklungschance werden?

Die Krise der Lebensmitte
Getrenntes verbinden, Altes loslassen, nach innen gehen © iStock by Getty Images: helloSG

Wer bin ich eigentlich?

In der Zeit der Lebensmitte hat man oft das Gefühl: Ich habe das Wesentliche erreicht. Ich habe eine Familie gegründet, vielleicht ein Haus gebaut, auf jeden Fall meine berufliche Situation gefestigt. Und dann kommt die Frage auf: Soll das immer so weitergehen? Was kommt jetzt? Man hat das Gefühl, dass der Beruf und der Erfolg nicht alles für einen bedeuten. Und Fragen sind auf einmal: Wozu lebe ich überhaupt? Was will ich denn mit meinem Leben erreichen? Was ist der Sinn des Ganzen? Gerade in dieser Zeit treten häufig auch Träume auf, die uns verunsichern. Da gibt es Verfolgungsträume. Sie sagen uns oft, dass wir etwas verdrängt haben in unserem Leben. Verfolgungsträume sind immer Schattenträume. Der eigene Schatten, in den wir all uns unliebsamen Bedürfnisse und Emotionen hinein verdrängt haben, verfolgt uns. Er meldet sich zu Wort. Er will angeschaut werden. Viele werden in dieser Zeit auch von depressiven Verstimmungen heimgesucht. Depressionen weisen oft auf eine Identitätskrise hin: Ich spüre, dass ich nicht nur dieser erfolgreiche Mann, diese erfolgreiche Frau bin, nicht nur Vater oder Mutter. Aber wer bin ich eigentlich? Was macht meine tiefste Identität aus?

Vom Ego zum Selbst

C.G. Jung meint, die Krise der Lebensmitte sei eine notwendige Krise. Es ist ganz normal, dass wir in der ersten Lebenshälfte einseitig leben. Wir brauchen ein starkes Ego, um uns im Leben zurechtzufinden. Aber in der Lebensmitte geht es darum, vom Ego zum Selbst, zur eigenen Personmitte vorzustoßen. Das gelingt nur, wenn wir unsere Schattenseiten integrieren. Es geht auch darum, in sich „anima“ und „animus“ zu integrieren. Jung versteht darunter weibliche (anima) und männliche (animus) Seelenanteile, die in jedem von uns sind. Wenn der Mann die anima verdrängt, wird er launisch und von seinen Launen beherrscht. Wenn die Frau den animus verdrängt, zeigt er sich oft in nicht mehr hinterfragbaren Meinungen. Ein Zeichen für die Integration von anima und animus ist, dass Männer und Frauen ihre eigene Identität finden und zugleich gut mit Männern und Frauen in ihrer Umgebung auskommen. Der Mann hat es nicht mehr nötig, die Frau zu entwerten. Und die Frau hat es nicht mehr nötig, den Mann zu bekämpfen.

Drei Fluchttendenzen

Die Zeit der Lebensmitte ist eine Zeit der Verwandlung. Doch Verwandlung ist immer eine Herausforderung. Daher gibt es nach Johannes Tauler – dem deutschen Mystiker, der schon im 14. Jahrhundert manche Ansichten von C.G. Jung vorweggenommen hat – drei Fluchttendenzen. Die erste: Statt mich zu verwandeln, möchte ich die anderen ändern, die Umgebung, die Gesellschaft. Denn sie sind schuld, dass ich in eine Krise geraten bin. Die zweite Fluchttendenz: Ich ändere ständig äußere Dinge und meine, dadurch könnte ich mich verwandeln. Heute würden wir sagen: meine Verhaltensweisen, meine Ernährungsmethode, meine sportlichen Methoden, meine psychologischen Programme. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass ich trotzdem immer der gleiche bleibe. Denn das, was ich an mir ändern will, lehne ich ja ab. Und was ich an mir ablehne, bleibt an mir hängen. Die dritte Fluchttendenz: Ich schließe jeden Wandel aus. Ich will so bleiben, wie ich bin. Das führt dann oft zu einem starren Konservativismus. Ich halte fest an den alten Einstellungen zum Leben, an alten Ritualen, an der alten Lebensform. Ich bewege mich nicht. Doch das führt zur inneren Erstarrung.

Voraussetzung innerer Verwandlung

Statt in die Flucht zu gehen, sollten wir uns in der Lebensmitte der eigenen inneren Verwandlung stellen. Und diese hat nach Johannes Tauler drei Voraussetzungen. Erstens: die ehrliche Selbsterkenntnis. Solange wir uns nicht selber ehrlich erkennen, projizieren wir unsere Probleme immer nur auf andere. Selbsterkenntnis ist schmerzlich. Daher sagt Tauler, dass manche richtige Bärenhäute um die eigene Seele gelegt haben, damit nichts in sie eindringen und sie verunsichern könnte. Die zweite Voraussetzung ist Gelassenheit. Es braucht Mut, alte Verhaltensweisen loszulassen. Manchmal geht es auch darum, Beziehungen, die sich überlebt haben, loszulassen, oder auch den Beruf, mit dem man sich identifiziert hat, loszulassen. Doch bevor man zu schnell von einem Beruf zum anderen wechselt, sollte man erst einmal die eigene oft festgefahrene Einstellung zum Beruf und zum Leben loslassen. Dann kann sich auch im Beruf etwas wandeln. Die dritte Voraussetzung ist – religiös ausgedrückt – die Gottesgeburt im Menschen. Wenn man diesen mystischen Ausdruck psychologisch beschreiben möchte, könnte man von Selbstwerdung sprechen. Es geht darum, vom Ego zum Selbst, zum unverfälschten Bild Gottes in mir zu gelangen. Das Selbst beinhaltet nach C.G. Jung nicht nur das Bewusste und Unbewusste, sondern auch das Bild Gottes, das sich in mich einbildet. Die Beziehung dazu ist für Jung die Voraussetzung, eine Beziehung zum eigenen wahren Selbst aufzubauen.

Auseinandersetzung mit dem Tod

Und für Jung gehört zum Prozess der Verwandlung in der Lebensmitte, dass man sich mit dem Schwächerwerden und schließlich mit dem Tod auseinandersetzt. Jung meint, ab der Lebensmitte bleibe nur der lebendig, der zu sterben bereit ist. Das entspricht der zweiten Voraussetzung für die Verwandlung, die Tauler beschrieben hat. Sich mit dem Sterben auseinandersetzen, bedeutet, alles Bisherige loszulassen, den Erfolg, die Rolle, die Kraft, das Leben loszulassen. Jung meint: Ungelebtes Leben kann man nur sehr schlecht loslassen. Menschen, die das Gefühl haben, noch nie wirklich gelebt zu haben, klammern sich an das Leben wie an einen Strohhalm. Aber es wird dadurch nicht lebendiger, sondern krampfhafter und enger.

So ist die Lebensmitte eine Chance, den Weg nach innen zu gehen und auf diese Weise gelassener, weiser, milder und weiser zu werden. Wir sollten keine Angst haben, wenn wir in der Lebensmitte in eine Krise geraten. Denn sie möchte alte Sicherheiten in uns zerbrechen, um uns aufzubrechen für das Neue und Authentische, das in uns wachsen möchte. Geduldiges Dranbleiben lohnt sich.

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