Die Mutter-Sohn-Beziehung ist besonders eng. Wenn Mütter aber einen Lieblingssohn haben, erschwert das die Beziehungen des einen Sohnes zu den andern Geschwistern. Und wenn die Beziehung zwischen Vater und Mutter nicht so gut ist, dann bindet die Mutter manchmal den Sohn an sich und behandelt ihn wie einen Prinzen. Doch das tut dem Sohn nicht gut. Wie können solche problematischen Beziehungen geheilt werden?
Was problematisch sein kann
Es kann durchaus vorkommen, dass gerade ein von der Mutter besonders verwöhnter Sohn von Schulkameraden als Muttersöhnchen verspottet wird. Im Kreis der Mitschüler kann er die Prinzenrolle nicht spielen. Manchmal kann die Mutterbeziehung des Sohnes sogar so stark sein, dass er unfähig wird zu heiraten. Oder aber die Frau hat neben dem Mann keine Chance, weil der Mann mehr auf die Mutter hört. Eine Frau erzählte mir: Wir waren gerade am Flughafen, um in die USA zu fliegen. Da rief die Mutter meines Mannes an, es gehe ihr im Moment nicht so gut. Und ihr Mann fuhr sofort zur Mutter und ließ seine Frau allein in die USA fliegen.
Doch es gibt auch andere Mutter-Sohn-Beziehungen. Ein Mann erzählte mir, dass seine Mutter nie mit ihm zufrieden war, ihn immer kritisiert und klein gemacht hat. Offensichtlich hatte die Mutter Angst vor dem Männlichen. Daher musste sie den Sohn klein halten. Der Sohn hat von ihr nie Zärtlichkeit erfahren. Da war eher ein Gefühl von Fremdheit zwischen Mutter und Sohn.
Oft hat man den Eindruck, als seien manche Mütter stolzer auf ihre Söhne als auf ihre Töchter. Das gibt dann Probleme unter den Geschwistern. Die Schwestern fühlen sich nicht genügend beachtet: Sie dürfen die Arbeit tun und der Sohn wird hofiert. Sobald die Mutter krank wird, kümmert sich nicht der Sohn um sie, sondern die Tochter. Doch auch das kann man in solchen Familienkonstellationen erleben: Die Söhne besprechen das Testament, das die Mutter schreiben soll, und versuchen, es zu ihrem Vorteil zu gestalten.
Eine biblische Geschichte
Der Evangelist Lukas erzählt uns eine Mutter-Sohn-Geschichte. (Lk 7,11-17) Da stirbt der einzige Sohn einer Witwe. Man kann sich vorstellen, dass Mutter und Sohn eng verbunden waren. Jetzt wird der Sohn auf einer Bahre aus der Stadt herausgetragen. Jesus wendet sich zuerst der Mutter zu. Er „hatte Mitleid mit ihr und sagte zu ihr: Weine nicht!“ (Lk 7,13) Jesus fühlt also mit dem Schmerz der Mutter. Doch das Wort „Weine nicht!“ ist weniger ein Wort des Mitleids als eine Aufforderung: „Höre auf zu weinen. Schau auf die vielen Menschen, die dich begleiten. Du bist nicht allein. Lass deinen Sohn los und wende dich dem Leben zu, öffne dich für die Menschen, die dich unterstützen wollen.“ Dann geht Jesus zur Bahre und fasst sie an. Er sagt gleichsam zum jungen Mann: „Stop. Das ist nicht der richtige Ort für dich. Du kannst dich nicht dein Leben lang auf Händen tragen lassen.“ Und er spricht ihn voller Energie an: „Ich befehle dir, junger Mann: Steh auf!“ (Lk 7,14) Das griechische Wort „egertheti“ heißt auch: „Wach auf! Mach endlich die Augen auf. Nimm dein Leben selber in die Hand. Du kannst nicht ständig in der Illusion leben, dass deine Mutter für dich sorgt.“ Auf dieses Wort hin richtet sich der Jüngling auf und beginnt zu sprechen. Er lehnt sich auf gegen die Bevormundung und spricht nun wirklich das aus, was in seinem Herzen ist. Vorher hatten Mutter und Sohn sicher viel geredet, aber nicht wirklich persönlich gesprochen.
Bindung und Freiheit
Bei dieser Geschichte muss ich immer an manche Männer denken, die um die 40 Jahre alt sind, Alkoholprobleme haben, arbeitslos sind, keine Partnerin haben und immer noch bei der Mutter leben. Dabei machen sie der Mutter das Leben oft zur Hölle, wollen etwa ständig mehr Geld von ihr. Aber sie weigern sich, selbst etwas zu tun. Die Mutter hat dann meist Angst, den Sohn aus dem Nest zu werfen. Vielleicht könnte er wirklich in der Gosse landen. Und sie hat Schuldgefühle: Was habe ich denn verkehrt gemacht, dass mein Sohn so geworden ist? Jesus tritt in der Geschichte, die Lukas erzählt, mit männlicher und väterlicher Energie auf und stärkt dem Sohn den Rücken, dass er endlich aufsteht und Verantwortung für sich und sein Leben übernimmt. Dann gibt Jesus den Sohn seiner Mutter zurück. Manche meinen, das sei doch ein Rückschritt. Doch der Sohn braucht auch die Beziehung zur Mutter. Sie muss allerdings von Freiheit geprägt sein. Ich kenne Männer, die sofort mit der Mutter streiten, sobald sie sie besuchen. Sie meinen, sie müssten sich gegen die Mutter wehren. Aber wenn sie mit ihr streiten, zeigt es, dass sie innerlich noch an sie gebunden sind. Wenn sie wirklich frei geworden sind, dann können sie die Mutter sein lassen, wie sie ist – ohne sich als Erwachsene von ihr bestimmen zu lassen.
Durch Verwandlung geheilt
Wenn wir nach der guten Beziehung zwischen Mutter und Sohn fragen, dann gibt die lukanische Geschichte eine klare Antwort: Beide brauchen Verwandlung. Die Mutter muss lernen, den Sohn loszulassen und ihn trotzdem mit ihrer mütterlichen Liebe zu begleiten. Der Sohn hat die Aufgabe, innerlich frei zu werden von der Bindung an die Mutter. Doch er braucht die Wurzeln, die ihm die Mutter anbietet. C.G. Jung meint, in uns allen sei eine Sehnsucht nach der Mutter. Wenn wir diese tiefe Sehnsucht aber noch als Erwachsene auf die konkrete Mutter richten, bleiben wir infantil. Andererseits: Wenn wir die Muttersehnsucht aus uns herausreißen, schneiden wir uns ab von einem wichtigen Wurzelgrund unseres Lebens. Daher geht es darum, die Muttersehnsucht auf ein Symbol zu richten: auf die Mutter Erde, auf Gott als unsere wahre Mutter. Symbole sind für Jung Umformer von Energie. Auch der Mann braucht die mütterliche Energie für sein Leben, damit sein Lebensbaum aufblühen kann. Aber sein Baum darf nicht mit dem Baum der Mutter zusammenwachsen. Eine Symbiose wäre für ihn tödlich. So geht es darum, dass der Sohn dankbar bleibt für die mütterlichen Wurzeln, aber zugleich innerlich frei wird von einer zu starken Bindung an die Mutter. Wenn beide sich in Freiheit begegnen, können sie füreinander Segen sein.
Ich danke allen, die meine Träume belächelt haben.
Sie haben meine Phantasie beflügelt.
Ich danke allen, die mich in ihr Schema pressen wollten.
Sie haben mich den Wert der Freiheit gelehrt.
Ich danke allen, die mich belogen haben.
Sie haben mir die Kraft der Wahrheit gezeigt.
Ich danke allen, die nicht an mich geglaubt haben.
Sie haben mir zugemutet, Berge zu versetzen.
(…)
Ich danke allen, die mich verletzt haben.
Sie haben mich gelehrt, im Schmerz zu wachsen.
Ich danke allen, die meinen Frieden gestört haben.
Sie haben mich stark gemacht, dafür einzutreten.
Ich danke allen, die mich verwirrt haben.
Sie haben mir meinen Standpunkt klar gemacht.
Vor allem danke ich all jenen, die mich lieben,
so wie ich bin. Sie geben mir Kraft zum Leben!
Paulo Coelho ( geb. 1947)