Flucht vor sich selbst
Die frühen Mönche kannten die innere Leere als eine Bedrohung für das spirituelle Leben – sie nannten sie „Akedia“, ein Ausdruck, den man nicht wirklich eindeutig übersetzen kann. Manche beschreiben ihn als Trägheit, andere als Überdruss. Gemeint ist im Kern die Unfähigkeit, im Augenblick zu sein, die Unfähigkeit, sich auf das einzulassen, was gerade da ist: Man hat keine Lust. Nicht zum Arbeiten – das ist zu anstrengend. Nicht zum Beten – das ist langweilig. Ja, man hat nicht einmal Lust am Nichtstun. Denn da ist nichts los. Und das kann man auch nicht aushalten. Akedia ist Ausdruck einer inneren Zerrissenheit: Man hat Angst, sich selbst zu begegnen. Hinter dieser Haltung steht ein Protest gegen das Leben. Man kann sich selbst und das Leben nicht aushalten. Daher muss man ständig vor sich selber fliehen in nichtige und leere Ablenkungen.
Das erschöpfte Selbst
Psychologen beschreiben diese innere Leere zum einen als Phänomen des depressiven Menschen. Der depressive Mensch fühlt gar nichts, ist von allen Emotionen abgeschnitten. Der französische Soziologe und Psychologe Alain Ehrenberg sieht noch einen anderen Grund für die innere Leere. Für ihn ist sie ein Phänomen des modernen Menschen, der sich vor lauter innerem Druck, er selbst sein zu müssen, erschöpft und sich dann leer und überflüssig fühlt. Ehrenberg spricht vom erschöpften Selbst. Die Emotion, die dieses erschöpfte Selbst prägt, ist die innere Leere.
Freudlos und trostlos
Gerade depressive Menschen haben das Gefühl einer trostlosen Leere. Alles ist grau und leblos in ihnen. Und so erleben sie auch die Welt um sich herum. Diese Leere ist oft mit dem Gefühl der Niedergeschlagenheit verbunden: Häufig in der Lebensmitte erleben manche Menschen ihre Existenz dann nur noch als leer und sinnlos. Sie haben das Gefühl, alles Bisherige sei umsonst gewesen. Sie hätten nicht wirklich gelebt. Sie hätten nur funktioniert. Sie sehnen sich nach Leben, aber wissen nicht, wie es geht. Ihr ganzes Leben ist freudlos. Sie sind unfähig, sich über etwas zu freuen, sich für etwas zu engagieren. Ihnen fehlt jede Leidenschaft, sich für andere oder für bestimmte Ziele einzusetzen.
Versteckt und verdrängt
Es ist schon ein Fortschritt, wenn die Menschen die innere Leere bewusst spüren. Denn viele nehmen sie gar nicht erst wahr. Sie sind es gewohnt, ihre Gefühle zu verdrängen. Sie überspielen die Leere mit vielen Aktivitäten. Nach außen hin denkt man, diese Menschen seien mit sich im Reinen. Sie arbeiten voller Eifer. Doch oft steckt hinter dieser Arbeitssucht eine innere Leere, die sie mit immer mehr Arbeit zudecken möchten. Wer ein geübtes Auge hat, der erkennt, dass diese Menschen oft zwar bestens funktionieren, aber nicht wirklich lebendig sind. Alles ist Routine, leer, künstlich, gestellt. Man kann diesen Menschen nicht wirklich als Person begegnen. Sie verstecken sich hinter ihrer Arbeit und hinter ihrer Rolle. Wenn man mit solchen Menschen spricht, wird man leicht müde. Die Gefühle, die wir bei so einem Menschen in uns selber spüren, geben uns oft Aufschluss über den Zustand des anderen. Die innere Leere eines anderen Menschen vermag oft unsere eigene Energie abzusaugen. Wir fühlen uns dann auch müde und kraftlos.
Wahrnehmen und ermutigen
Der Mönch Evagrius Ponticus, der im vierten Jahrhundert als geistlicher Schriftsteller großen Einfluss hatte, gibt als Heilmittel für dieses Gefühl der inneren Leere an, der Mönch solle in seiner Zelle bleiben und sich selbst aushalten. Es braucht den Mut, sich der eigenen Leere und der Wahrheit, die hinter dieser Leere steckt, auszusetzen und sie wahrzunehmen. Evagrius gibt folgenden Rat: „Wenn die Akedia uns versucht, dann ist es gut, unter Tränen unsere Seele gleichsam in zwei Teile zu teilen: in einen Teil, der Mut zuspricht, und in einen Teil, dem Mut gemacht wird. Wir säen Samen einer unerschütterlichen Hoffnung in uns, wenn wir mit König David singen: „Warum bist du betrübt meine Seele und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott, denn ich werde ihm noch danken, meinem Gott und Retter, auf den ich schaue.“ (Praktikos Nr. 27) Das ist die sogenannte antirrhetische Methode: Man spricht Worte der Bibel in die negativen Gefühle der Leere und des Überdrusses hinein. Es geht nicht darum, die Leere zu vertreiben, sondern sie zuzulassen. Das drückt die erste Hälfte des Psalmverses aus. Ich benenne meine innere Unruhe und Lustlosigkeit. Dann spreche ich in diese Lustlosigkeit hinein die ermutigenden Worte: „Harre auf Gott, ich werde ihm noch danken.“ Diese Worte verwandeln langsam die Gefühle der Leere und Hoffnungslosigkeit.
Annehmen und öffnen
Der andere Rat, den Evagrius gibt, ist, sich auszuhalten, auch wenn man sich innerlich zerrissen fühlt: „Nimm einfach an, was die Versuchung über dich bringt. Vor allem sieh dieser Versuchung der Akedia ins Auge, denn sie ist die schlimmste von allen, sie hat aber auch die größte Reinigung der Seele zur Folge. Vor solchen Konflikten zu fliehen oder sie zu scheuen, macht den Geist ungeschickt, feige und furchtsam.“ (Praktikos Nr. 28) In diesen Worten wird sichtbar, dass man sich vertraut machen soll mit dem Gefühl der inneren Leere. Wenn ich mir eingestehe, dass ich innerlich leer bin, dann reinigt mich das von meiner Illusion, dass ich die Leere selber ausfüllen kann. Ich kann sie weder durch äußere Tätigkeiten, noch durch fromme Übungen erfüllen. Ich soll meine Ohnmacht zugeben. Dann entdecke in meiner Leere eine tiefe Sehnsucht. Und diese Sehnsucht vermag allein Gott zu erfüllen. Wenn ich meine Leere also annehme, dann führt sie mich zu Gott. Dann verzichte ich darauf, Gott zu besitzen oder Gott mit schönen Gefühlen zu verwechseln. Ich werde gereinigt von allen egoistischen Bestrebungen und überlasse mich ganz Gott. Dann wird die innere Leere zum Weg zu Gott. Und auf diesem Weg erfahre ich mitten in der Leere auf einmal Fülle und Erfüllung.
Weg zu neuer Fülle
In diesem positiven Sinn haben die Mystiker von der Leere gesprochen. Meister Eckehart spricht davon, dass wir unsere Seele leer machen sollen von allen Vorstellungen und allen irdischen Dingen, damit Gott auf dem Grund unserer Seele mit uns eins werden kann. Er spricht von frei sein und leer sein. Schon der hl. Augustinus hat ein Bild dafür gebraucht, das in der christlichen Tradition immer wieder verwendet wird. Wir sind wie eine Vase. Sie muss ganz leer sein, damit Gottes Gnade sich darin ergießen kann. Ähnlich spricht auch der Zen-Buddhismus von der Leere, die wir in der Meditation erreichen sollen. In dieser Leere öffnen wir uns für Gott, der jenseits aller Vorstellungen, Bilder und Begriffe ist. Johannes vom Kreuz hat das Bild der dunklen Nacht dafür gebraucht. In der dunklen Nacht entschwinden uns alle Bilder von Gott, aber auch alle Gefühle, die wir früher einmal in der Begegnung mit Gott hatten. Für Johannes vom Kreuz ist die dunkle Nacht ein Weg der Reinigung, damit wir Gott nicht mit unseren Bildern und Gefühlen verwechseln, sondern uns für den Gott jenseits aller Bilder öffnen. Darin also liegt ein tieferer Sinn dieses Gefühls: Leere kann mich, wenn ich sie befrage, auf das Eigentliche meines Lebens hinführen. Manches wird mir hohl vorkommen, wenn ich durch meine Leere hindurch zur Wahrheit meines Lebens gelange, den Geschmack am wirklichen Leben entdecke und lerne, achtsam zu leben. Leere wird so zum Weg. Sie führt mich zum unbegreiflichen Geheimnis Gottes, der sich nicht von mir besitzen lässt, sondern in mir herrschen möchte. So ist die Leere beides: Gefährdung und Chance, Ort der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit und zugleich Ort eines tiefen inneren Friedens, wenn Gott in diese Leere einzieht und uns mit seinem Geist, mit seiner Liebe erfüllt.