Was gibt’s Schönes in der Post?

Ein Briefkasten als Bild der Vorfreude? In dem Buch „Das Glück liegt auf der Hand“, schrieb jemand, und das ist noch nicht so lange her: „Die meisten Menschen freuen sich, wenn die Post eingeworfen wird und sind neugierig, was sie ihnen wohl bringen wird. Das gehört zur Lebenserwartung … Stell dir eine Welt ohne Briefe vor. Wie verzweifelt einsam wäre eine solche Welt ohne all die Freundlichkeiten und Liebeszeichen, die sie übermitteln!“ (Benno von Wiese) Antiquiert? Wer wartet denn noch auf Briefe? Freuden, die mit Warten verbunden sind, sind seltener geworden in Zeiten des Internet, wo Antworten unmittelbar erwartet, wo Wünsche sofort oder, bitteschön, zumindest „zeitnah“ erfüllt werden müssen. Aber nachvollziehbar sind solche Vorfreuden immer noch. Der Grund liegt auf der Hand. Eine Leipzig-Besucherin berichtet, dass es dort diesen alten gelben Briefkasten vor der Uni-Bibliothek gibt, auf dessen Lack jemand mit wasserfestem Stift geschrieben hat: „Nur Liebesbriefe“. Sie sagt, dass sie das auch am liebsten auf ihr Postfach zu Hause schreiben würde: „Nur Liebesbriefe!“. Keine Werbung. Keine Rechnungen!

Die Welt ist nicht so. Und trotzdem ist es einfach immer wieder belebend: Zeichen von Lebenslust, Freundlichkeit und Liebe erwarten. Darauf vertrauen, dass sich jemand Zeit genommen hat für dich. Antizipieren, dass sich in einer erwarteten Nachricht etwas Überraschendes, etwas unerwartet Schönes auftun wird. Der tristeren Gegenwart, dem grauen Alltag voraussein in der Vorwegnahme einer Freude – was kann es Schöneres geben? Zwar sind völlig unerwartete Freuden besonders schön. Aber etwas erwarten können ist ein Gegenmittel gegen den Sofortismus, der freudige Erwartung gar nicht mehr aufkommen lässt, der jede Sehnsucht gleich zudeckelt. Und dem Leben damit die Spannung nimmt. Vorfreude macht Geschmack auf die Zukunft, stimmt zuversichtlich. Sie ist sozusagen ein Aperitif auf das Glück. Und solche Vorfreude ist mehr als ein Impuls, mit solchem Glück wirklich zu rechnen. Sie ist eine Brücke dahin: Noch nicht alles, noch nicht jetzt, aber doch bald … Etwas erwarten – auch das ist Gegenwart. Alles ist möglich. Und alles kann gut werden. „Freu dich nicht zu früh!“ So warnen die einen. Recht haben die anderen, die sagen: Man kann nicht früh genug anfangen, sich zu freuen. „Der Weg ist, wo die Freude ist“: das ist der Rat eines Therapeuten für alle, die sich vor den Unsicherheiten des Lebens ängstigen und nicht wissen wohin.

Warum soll man sich nicht selber glücklich machen? Ein Künstler der Vorfreude war unser Freund Martin. Bei passenden Gelegenheiten, Geburtstag, Namenstag oder Weihnachten, verpackte er für sich selber ausgesuchte Geschenke in schönstes Papier, versah sie mit dem Vermerk „Für Martin“, legte sie sichtbar auf den Gabentisch und freute sich schon Tage vorher auf das lustvolle Auswickeln. Enttäuschung ausgeschlossen. Irgendwie sind wir geübter darin, uns schlimme Dinge auszumalen: als ob man sie durch solche Vorwegnahme vermeiden könnte. Das Gegenteil ist realistisch und auf jeden Fall erfreulicher. Vorfreude gibt einen Vorsprung gegenüber den sogenannten „Realisten“. Daher: Keine Freude aufschieben. Und die damit verbundene Spannung genießen. Vorfreuden heben unser Lebensgefühl und beleben uns jetzt schon. Man sollte sie ausleben. Denn: „Ein Vergnügen erwarten ist auch ein Vergnügen“ (G. E. Lessing). Wie Kinder sich freuen – auf Weihnachten oder den Geburtstag („nur noch dreimal schlafen!“), so kann man sich auch als Erwachsener freuen: auf ein gutes Buch. Auf ein Wiedersehen mit alten und lange vermissten Freunden. Der erste Zitronenfalter im Februar. Im eigenen Vorgarten plötzlich ein Meer von blauen Krokussen. Der Frühling kommt bestimmt! Der erste Spargel Ende April. Oder: Ein Essen für Freunde planen. Der wieder mögliche Konzertbesuch nach der Pandemie. Das Stimmen der Instrumente im Orchestergraben: verheißungsvolle Klangwolke unmittelbar vor dem Beginn. Der Erwartung sind keine Grenzen gesetzt. Und so können wir der Zukunft ein Lächeln abgewinnen. Jetzt schon. Denn auch Vorfreude ist gegenwärtig, ist jetzt: ein Trampolinsprung ins Glück. Ich denke an die Stimme von Julia, die heuer 16 wurde und der ich am Telefon gratulierte: Unglaublich – die unbändige Freude in ihrer Stimme. Das war nicht eine Freude an irgendwas. Nein, es war die große Freude am Leben selbst, das jetzt offen vor ihr liegt. Nichts Einzelnes, nichts Konkretes, sondern alles. Mit unendlichen Möglichkeiten. Die Schule ist vorbei. Die gewünschte Ausbildung beginnt. Vorhang auf! Endlich wird es spannend. Jetzt. Gleich. Es kann losgehen, das Spiel des Lebens. Himmlisch! Himmelhoch. Und fest auf der Erde. Geht nicht so das Glück? Oder wie ein Zenspruch aus Japan verheißt: „Klopf an den Himmel und freu dich auf den Klang!“

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