Ein Augenblick, ein Wimpernschlag
Vor einer halben Stunde haben wir, mein Mann Lorenz und ich, zusammen gegessen, Salat mit einem Stück Brot. Wir haben geplaudert und gelacht.
Vor einer Viertelstunde hast du dich in dein Arbeitszimmer verabschiedet: „Ich schreib noch ein bisschen, nicht zu lang. Sehen wir uns nachher zusammen die Literatursendung an?“
Vor fünf Minuten wehte deine Musik zu mir herüber, hörte ich das sanfte Geräusch deiner Finger auf den Tasten. Und jetzt, genau jetzt, finde ich dich nach einem lauten Knall hingestreckt auf dem Fußboden. Tot – gegangen ohne Abschied.
Ein Augenblick, ein Wimpernschlag, eine Sekunde, die Länge eines Atemzugs – und aus einem lebendigen, warmen, geliebten Menschen ist ein kalter, regloser Körper geworden.
Und die Zeit steht still.
Aus dem Leben, aus der Zeit gefallen
Ich stand am Rand der Welt und schaute den anderen beim Leben zu – und wunderte mich, dass sie mit und in ihrer Zeit voranschritten und lebten, wie wenn alles wäre wie immer, wo doch nichts mehr ist, wie es war. Ich fühlte mich getrennt, außerhalb, in einer zeitlosen Blase. Lange nach dem Tod meines Mannes empfand ich so, manchmal auch jetzt noch, dreieinhalb Jahre später.
Man sagt, das Leben gehe weiter, ein hingeworfener Spruch, beschwichtigend, um zu trösten. Ja, das Leben geht weiter, aber auch der Tod, denn Lorenz wird an jedem einzelnen Tag, der noch kommt, tot sein.
Unser Leben war ab sofort zu Ende. Meines fing gerade neu an, ohne ihn.
Was ist das überhaupt: die Zeit?
Was ist das überhaupt: die Zeit? Je länger ich darüber nachdenke, desto weniger weiß ich es. Wenn ich Fotos anschaue, Videoaufnahmen mit Lorenz sehe, so lebendig in Bild und Ton, wenn ich mich erinnere, gibt es gerade nur diesen vergangenen Augenblick, nirgends so etwas wie „die Zeit“. Wenn ich allerdings mich selbst im Spiegel anschaue, sehe ich die Zeit, die Spuren in meinem Gesicht. Ich verändere mich, ich vergehe, die Zeit beeindruckt das nicht. Sie bleibt, was sie ist – oder gibt es sie gar nicht?
Nicht die, sondern meine Zeit vergeht.
Seltsame Verschiebungen
Der Altersunterschied zwischen Lorenz und mir betrug sechs Jahre. Uneinholbar, unveränderbar. Wir scherzten gelegentlich darüber. Plötzlich aber ist es doch anders. Der Unterschied beträgt nur noch drei Jahre, bald werde ich so alt sein wie er bei seinem Tod – und dann älter. Er bleibt für immer achtundsechzig, wird aber aus meiner Perspektive immer jünger. Wie seltsam und wundersam das doch ist. Auch das Gewicht unserer gemeinsamen Lebenszeit verschiebt sich für mich. Als Lorenz starb, hatte ich ziemlich genau die Hälfte meines Lebens mit ihm verbracht, den größten Teil meines Erwachsenenlebens, und der Anteil hätte sich ständig vergrößert, wäre erfüllt gewesen von gemeinsam erlebter Zeit. Wenn ich nun noch älter werde, wird dieser Anteil immer kleiner werden, weiter wegrücken, bis die Zeit mit Lorenz nur noch ein Schnitz meiner Lebenszeit ist.
Mein Gefährte war er, das Zentrum meines Lebens, für alle Zeit, dachte ich. Zeit, Raum, Geschwindigkeit, eine dynamische Kombination.
Unglaublich schnell riss es mich von ihm weg, oder ihn von mir.
Wo ist unser Leben? Wo ist die Liebe?
Vierzig Jahre zurück, Zürichsee, Segelschiff. Eine Bö reißt den Hut vom Kopf ins Wasser. Wie schnell sich das Schiff entfernt, vom Wind des Lebens getrieben. Um den Hut zu retten, hätte es ein ausgeklügeltes Manöver gebraucht, eine schnelle Wende.
Lorenz konnte ich nicht retten. Seine Zeit blieb stehen. Er ist aus der Zeit gefallen. Auch meine Zeit blieb stehen, und gleichzeitig eilte ich auf dem Zeitstrahl mit atemberaubender Geschwindigkeit in die entgegengesetzte Richtung.
Es gab einmal eine Zeit – sechs Jahre – da war Lorenz schon hier auf dieser Erde, hat geatmet, sich gefreut und gefürchtet. Eine Zeit, als es mich überhaupt noch nicht gab. Eine Zeit, in der er existierte, ein bewusster Mensch – und ich: im Nichts.
Dann kam eine Zeit, wo wir beide gleichzeitig auf dieser Erde lebten, ohne voneinander zu wissen. Keine Sekunde habe ich gelebt, ohne dass auch er gelebt hätte. Dann dreißig Jahre dieses „Wir“. Und jetzt ist wieder eine ganz andere Zeit. Lorenz ist im Nichts verschwunden und ich bin noch da. Ich atme, freue und fürchte mich. Und mit jedem meiner Atemzüge entfernt sich Lorenz ein bisschen von mir, entweicht in die Vergangenheit und wird ein wenig mehr Geschichte.
Wo ist unser gemeinsam verbrachtes Leben, wo sind all die Erinnerungen? Und wo ist die Liebe?
Ist vielleicht nichts von allem mehr da, oder alles gleichzeitig?
Die Lücke bleibt Lücke
Zeit heilt Wunden? Für mich gilt das nicht. Akzeptanz ja, ein Ja zum Leben, wie es eben ist. Trotzdem erlebe ich keine Heilung. Das Loch lässt sich nicht einfach mit anderen Menschen und Aktivitäten füllen. Die Lücke bleibt Lücke. Ich lebe damit.
Die Zeit hat sich für mich wieder in Bewegung gesetzt. Ich werde älter, mit allem, was dazugehört. Ich habe wieder schöne Erlebnisse, zufriedene Momente. Ich sehe das Wunderbare und das Schreckliche. Ich habe Erinnerungen, die nur noch meine sind. Ich habe den Entschluss gefasst, den Fokus auf das Positive zu richten.
Und:
Ich gehe weiter –
mit der Zeit.