Heilende Wirkung
Augustinus meint, das Psalmensingen helfe dem Volk, dass es „nicht aus Überdruss an Trauer ermatte“. Er spricht auch vom „Jubilus“. Das ist ein Singen auf einem Ton, wie es beim Halleluja oft praktiziert wird. Das ist für ihn Ausdruck einer wortlosen Freude: „Die unermessbare Weite der Freude findet ihre Grenze nicht an Silben.“ Singen bewirkt nicht nur Freude, sondern hat auch eine heilende Wirkung auf den Menschen. So meint Johannes Chrystostomus, dass die Menschen ihre Mühe bei der Arbeit durch Gesang erleichtern. „Denn die Seele erträgt die Härten und Mühen leichter, wenn sie eine Melodie singt oder ihr nachlauscht.“ Ähnlich sieht es der italienische Dichter Francesco Petrarca (1304–1374): „Durch Singen wird das herbe Leiden süß.“
In Berührung mit unseren Emotionen
Im Singen kommen wir in Berührung mit unseren Emotionen, vor allem mit der Freude und der Liebe. Das drückt Augustinus in seinem berühmten Wort aus: „Cantare amantis ist“. Das kann man verschieden deuten: Entweder: „Wer liebt, der singt gerne. Er möchte seine Liebe im Gesang zum Ausdruck bringen.“ Oder: „Wer singt, kommt in Berührung mit der Liebe, die in ihm ist.“ Genauso kommt der Singende in Berührung mit der Freude, die in ihm ist, die oft genug zugeschüttet ist von den alltäglichen Sorgen und Schwierigkeiten. Durch das Singen kommt die Freude, die auf dem Grund unserer Seele bereit liegt, nach oben und prägt dann unser Bewusstsein.
Singen schafft Verbundenheit
Wir singen gemeinsam, hören aufeinander. Und die Töne verbinden uns miteinander. Wer gemeinsam singt, fühlt sich getragen von der Gemeinschaft. Er fühlt sich verbunden mit all denen, die mit ihm singen. Das ist gerade heute in unserer Zeit der Anonymisierung ein heilsamer Aspekt des Singens. Das geschieht bei gemeinsamen Gottesdiensten. Das geschieht aber auch beim gemeinsamen Singen in der Familie. Und wenn wir als Jugendliche am Lagerfeuer gesessen und miteinander gesungen haben, konnten wir oft gar nicht aufhören. Es war einfach schön. Und es entstand das Gefühl: Wir gehören zusammen, wir ergänzen einander. Wir schaffen uns gegenseitig eine Atmosphäre von Liebe und Freude.
Standleitung ins Paradies
Die Welt wird zu einem freundlicheren Ort und wir selber sind glücklicher,
erfüllter und genussfähiger, wenn wir Verbundenheit in allen Dimensionen
erleben, wahrnehmen, pflegen und genießen – allein oder in der Gemeinschaft. Verbundenheit mit dem Ganzen erfahren kann auf besondere
Weise, wer sich ganz einem Musikstück hingibt oder in ein Buch eintaucht und sich dabei vergisst, ein Kunstwerk betrachtet und darin
aufgeht. „Gesegnete Augenblicke“ erlebt auch: wer tanzt, sich tragen
lässt von einer Melodie, mit einem anderen „mitspielt“, mit dem Partner
sich einschwingt in einen gemeinsamen Rhythmus. Oder wer mit Hingabe
singt, allein oder im Chor (Eva-Maria Bohle: „Singen ist eine Standleitung
ins Paradies!“). Oder wer ein Instrument spielt, für sich oder im Zusammenklang mit anderen: und mit Leib und Seele mitklingt, Resonanz in
sich selber spürt, im Einklang mit einer großen Harmonie.
Aus: Rudolf Walter, Genießen. Was schön ist und gut tut. Vorwort von
Anselm Grün, Verlag Herder 2024