„Nicht jeder, der einen Bart trägt, ist Philosoph“, sagt ein arabisches Sprichwort. Es ist so eine Sache mit der Weisheit und dem Alter. „Naseweis“ nennt man Kinder, die kaum über den Horizont ihrer Nase hinausschauen und doch schon altklug daherreden. Aber „Alter schützt vor Torheit nicht“, sagt man schließlich auch. Nicht ohne Grund. Erfahrungen macht jeder im Leben, von Anfang an. Aber nicht jeden machen sie klüger, und schon gar nicht auf Dauer weitherziger, reifer.
Abraham J. Heschel, der große Rabbiner, bekannte: „Als ich jung war, verehrte ich kluge Menschen. Nun, da ich alt bin, verehre ich freundliche Menschen.“ Klug, auch lebensklug ist, wer geschickt im Problemlösen ist und gut durch die Zumutungen und Zufälligkeiten des Alltags kommt. Freundlichkeit ist etwas anderes und mehr. Sie hat mit dem Herzen zu tun, mit dem Inneren einer Person und mit ihrem positiven Verhältnis zur Welt.
Klar ist, dass Weisheit nicht an ein biologisches Alter geknüpft ist oder selbstverständlich mit den Jahren zunimmt. Und doch verbindet sich die Vorstellung von Weisheit oft mit dem Alter. Das hat viele Gründe. Weisheit ist ja etwas anderes als Wissen oder Sachkompetenz. Da geht es um den Blick aufs Ganze, um das Woher und Wohin, den Grund unseres Daseins, um das Miteinander in der Welt und um Selbsterkenntnis, um das rechte Denken und Reden, um den Sinn dessen, was man tut: schlussendlich um das gute Leben.
Alte Menschen haben in aller Regel schon viel erlebt, wissen einfach mehr vom Leben. Damit steigt die Chance, dass sich auch der Blick aufs Wesentliche schärft. Alte Menschen mussten im Verlauf mit Glück und Unglück umgehen, sie haben Krisen bewältigt, Wandlungen erlebt und gestaltet. Sie müssen auch nicht mehr kämpfen oder mehr für sich erreichen, können eher von sich absehen, sind anderen gegenüber milder geworden. Das Leben hat sie etwas gelehrt. Da ist also eine natürliche Autorität aufgrund von Lebensleistung. Glaubwürdigkeit wächst durch Urteilskraft, die in Konflikten erprobt wurde. Orientierung wird erleichtert durch Überblicken größerer Zeiträume. Und Distanz zur Aktualität hilft auch: eine Haltung, die freier macht, vielleicht sogar altersmilde. Man ist in aller Regel gelassener gestimmt, entspannter. Gerade in unübersichtlichen, aufgeregten Zeiten ist das wohltuend.
Weitergabe von Erfahrung war immer wichtig im Zusammenleben, in Regeln oder Sprichwörtern aufbewahrt, tradiert und abrufbar: „Mitte Mai ist der Winter vorbei“ etwa – darauf konnte man sich einstellen. Heute teilen Computer langfristige und aktuelle Wetterprognosen tagesgenau mit. „Mit dem Hute in der Hand kommst du durchs ganze Land“, hieß es früher mal. Heute erhält Reichweite in den social media, wer am lautstärksten und aggressivsten reagiert.
Dass Leben gelingt, wenn Erfahrung weitergegeben wird, war der Grund dafür, dass geschichtlich in allen Kulturen das Alter geschätzt wurde. Dieses traditionelle Privileg fällt heute weg.
Google macht Infos sofort zugänglich und die KI saugt das komplexe Erfahrungswissen ganzer Generationen auf und bietet an, es umzusetzen, aber weder die Fülle des Wissbaren noch die Komplexität des Gewussten ersetzen Lebensweisheit. Da geht es auch nicht nur darum, über den Tellerrand hinauszuschauen. Es geht um eine andere Qualität: um das Gespür dafür, was uns – Menschen aus Fleisch und Blut – alle verbindet, was uns in Krisen trägt und was letztlich zählt im Leben. Es ist, wie gesagt, eine Herzensangelegenheit. „Gib uns ein weises Herz“, heißt es in Psalm 90. Um Zuwendung geht es: Salomon wird weise genannt, weil er „ein hörendes Herz“ hat.
Und heute? In angespannten und hektischen Zeiten wächst offensichtlich die Suche nach dieser Qualität, auch die Sehnsucht nach Verbundenheit, Verlässlichkeit, entspannter Beziehung. Die Beiträge dieses Heftes zeigen: Nicht nur im Verhältnis der Generationen, sondern generell für das Zusammenleben von Menschen im Alltag sind solche Haltungen wichtig: innere Klarheit, realistische Einsichten und eine mutmachende Sicht auf die Möglichkeiten des Lebens, trotz aller Beschränktheit. Humor gehört dazu. Auch Wohlwollen und Freundlichkeit: eben „ein Herz“ füreinander.
Einsicht in die eigene Unzulänglichkeit schließt das nicht aus. Im Gegenteil! Und ein wirklicher Weiser, Fulbert Steffensky, hat zum Verhältnis Junge und Alte einmal gesagt, zur Weisheit gehöre auch die Erkenntnis der Schwäche. Auch das zeige das Alter. Steffensky: „Die Wahrheit ist, dass wir vergessen haben, wie man ‚Ich weiß es nicht‘ sagt.“ (vgl. einfach leben Thema: Alte und Kinder, 2021)
Eine der für dieses Heft eingeladenen Personen hat in diesem Sinn dann tatsächlich geschrieben „Ich kann die Einladung leider nicht mehr annehmen: Die Schreibstube ist geschlossen. Das Alter hat mächtig zugeschlagen. Die Weisheit kommt nicht mehr mit.“ Alles ist endlich. Dem beherzt und gelassen Rechnung zu tragen, ist auch eine Form der Weisheit. Eine beeindruckende dazu.