Gott ist überall. Und er ist da, wo wir ihn in unser Herz einlassen. Wir dürfen ihn uns nicht wie einen Geist vorstellen, der sich unsichtbar hin und her bewegt und überall auftaucht. Gott ist vielmehr der Grund, der alles durchdringt, der Geist, der alles durchgeistet, die Energie, die in allem fließt, die Liebe, die alles durchwirkt. Er trägt die Welt und durchdringt die Welt. Er ist außerhalb von mir und zugleich in meinem Herzen. Er ist in der Welt und zugleich über der Welt. Manchmal muss ich mich von der Welt zurückziehen, um ihn in der Stille wahrzunehmen. Aber wenn ich achtsam genug bin, kann ich ihn überall wahrnehmen. Das apokryphe Thomasevangelium, ein gnostischer Text aus dem zweiten Jahrhundert, überliefert uns ein Wort Jesu, das lautet: „Ich bin das Licht, das über allem ist. Ich bin das All. Aus mir ist das All hervorgegangen, und zu mir ist das All gelangt. Spaltet ein Stück Holz – ich bin da. Hebt den Stein auf, und ihr werdet mich dort finden.“
Wir können Gott nicht als Bild unter anderen Bildern sehen. Wir können ihn nur als den erkennen, der in allem und über allem ist, der ganz andere, der uns auf einmal in einem Bild anschaut, in einem Wort anspricht, der uns in einer Begegnung aufleuchtet und sich uns in der Schöpfung zeigt.
Wir können die Gegenwart Gottes nur in Gegensätzen denken: Gott ist in mir und außerhalb von mir. Er ist der Schöpfer, der die Welt trägt. Und er ist die Kraft, die alles durchdringt. Gott ist der, der mich begleitet. Und er ist der ferne und unbegreifliche Gott. Er ist der Unfassbare, vor dem ich niederfalle und den ich anbete. Und er ist der, der mich mit seiner Liebe einhüllt, in dessen heilender Gegenwart ich geborgen bin. Er ist der, der mich herausfordert und auf den Weg schickt, und der, der mich trägt und mir Heimat schenkt. Er ist der ganz Andere und doch auch ganz in mir. Dort wo ich ganz ich selbst bin, bin ich auch in Berührung mit Gott, der mich zu meinem wahren Selbst führt.
Ich kann diesen Gott vor allem in der Welt erfahren und zwar durch meine Sinne. Ich kann in der Schönheit der Welt die Schönheit schlechthin schauen. Die Schönheit schlechthin ist Gott. Ich kann in einem menschlichen Wort sein Wort hören und in der Musik das Unhörbare erahnen. Ich kann im Wein Gottes süßen Geschmack schmecken, im Duft des Weihrauchs etwas von seinem Geheimnis riechen und in der Blume Gottes Zärtlichkeit ertasten. Aber ich kann ihn nicht direkt greifen. Die Sinne weisen über sich hinaus auf das Unerfahrbare und Unsichtbare und Unhörbare. Wenn ich den Sternenhimmel anschaue, dann geht mir etwas von seiner Größe und Schönheit auf.
Auch die Geschichte ist der Ort, an dem ich Gott erfahren kann. Ich kann in der Weltgeschichte einzelne Ereignisse festmachen, von denen der Glaube sagt: Hier hat Gott sich gezeigt. Da sind die Geburt seines Sohnes, sein geschichtliches Wirken in Palästina und sein Tod und seine Auferstehung. Ich kann geschichtliche Erfahrungen von Befreiung als Erfahrung Gottes deuten und etwa – ein Beispiel der jüngeren Vergangenheit – den Mauerfall ohne blutige Gewalt als Gotteserfahrung verstehen. Und ich kann in meiner eigenen Lebensgeschichte genügend Beispiele aufzählen, wo ich sagen darf: Da habe ich Gottes Nähe, seinen Schutz, seine Fürsorge und Liebe gespürt. Da hat mich etwas Numinoses angerührt, das ich nur mit Gott bezeichnen kann. Die Erfahrung Gottes setzt nicht immer die Erfahrung einer heilen Welt voraus. Und wir erfahren Gott auch nicht immer nur im Guten. Oft ist es gerade so, dass wir dort, wo uns etwas Schweres widerfahren ist, ein Leid uns getroffen hat oder wo jemand uns Böses angetan hat, wir zugleich etwas gespürt haben, was uns trägt, was uns dem Bösen entreißt und was uns mitten im Leid eine Ahnung von Frieden schenkt, der tiefer ist als äußeres Wohlergehen.
Aber genauso wichtig ist für mich auch, Gott in meinem Innern zu erfahren. Augustinus, der große Kirchenvater sagt, dass Gott uns innerlicher ist als wir uns selbst sind. Wenn wir also in uns gehen, können wir ihn erahnen. Der Gott, der in uns ist, entzieht sich aber unserem Zugriff. Er ist unverfügbar und doch ist er in uns. In dem Raum der Stille, zu dem kein menschlicher Gedanke vordringt, da wohnt er in uns. Und manchmal können wir ihn spüren. Dann sind wir ganz eins mit uns selbst. In diesem Augenblick vergessen wir uns selbst. Da reflektieren wir nicht über unsere Erfahrung, sondern wir sind einfach nur da. Und indem wir da sind, sind wir in ihm und er ist in uns.