G/GESCHICHTE: Sie kritisieren seit Monaten vehement, wie die Rückgabe der deutschen Benin-Bronzen an Nigeria verlaufen ist. Man könnte fast denken, Sie seien grundsätzlich gegen solche Restitutionen geraubter Kulturgüter. Ist dem so?
Brigitta Hauser-Schäublin: Nein, das ist zu allgemein formuliert. Ich habe zusammen mit einer australischen Völkerrechtlerin ein Buch über umstrittene Kulturgüter herausgegeben und darin die Geschichte von geplünderten Tempelanlagen in Kambodscha nachgezeichnet: Während des Bürgerkrieges in den 1970er-Jahren räumten ruchlose Händler diese Anlagen aus und brachten die Kulturgüter außer Landes, wo sie verkauft wurden. Später landeten einige in Museen. Selbstverständlich habe ich da für eine Rückgabe plädiert. Aber jeder Fall ist anders.
Im vergangenen Dezember hat Außenministerin Annalena Baerbock die einst von deutschen Museen ersteigerten Benin-Bronzen bei einem Staatsakt an Nigeria zurückgegeben. Sie ging davon aus, dass diese 1130 Bronzen dort in einem öffentlichen Museum gezeigt würden. Aber dann übereignete der nigerianische Präsident alle Bronzen überraschenderweise dem König von Benin, dessen Vorfahren sie einst gehörten. Was ist falsch gelaufen?
Schon der Begriff „Rückgabe“ ist falsch. Dahinter steht die Idee des Privateigentums, also eine europäisch-kapitalistische Vorstellung. Derzufolge kann es nur einen einzigen rechtmäßigen Eigentümer geben. Dass es sich bei den Bronzen um ein Welterbe handeln könnte, kam daher niemandem in den Sinn. Dabei hätte zunächst die Provenienz geklärt werden müssen: die brutale Geschichte der Entstehung, ihre einstige Verwendung, ihre Konfiszierung durch eine britische Strafexpedition, der Verkauf an andere Länder und so weiter. Zudem wurde in Deutschland nie diskutiert, an wen eine Rückgabe erfolgen sollte. Wollte man wirklich, dass sie an den Nachfolger des ehemaligen Besitzers gelangen, also einen Nachkommen von Sklavenhändlern?
„In den Bronzen steckt die Geschichte der Globalisierung“
Manche finden das nicht schlimm. So argumentiert der Völkerrechtler Matthias Goldmann, die Weitergabe an den Oba von Benin entspreche afrikanischen Begriffen von kollektivem Eigentum. Wie beurteilen Sie das?
In Afrika leben viele Tausende Ethnien. Manche sind egalitär, andere despotisch organisiert. In einer egalitären Gesellschaft bestehen Vorstellungen von kollektivem Eigentum, aber niemals in einer hierarchischen wie dem Königreich Benin mit dem Oba als absolutem Herrscher: Er hat Hunderttausende von Afrikanern versklavt und an Europäer verkauft. Der heutige Oba betrachtet die Bronzen als sein Privateigentum.
Was macht die Bronzen zu einem Welterbe? Offiziell sind sie von der UNESCO bislang ja nicht als ein solches gelistet.
In ihnen steckt die Geschichte der Globalisierung: Der Rohstoff stammt aus dem Rheinland. Die Portugiesen bezahlten damit die afrikanischen Sklaven, die sie dem Oba abkauften. Während die versklavten Menschen in der Karibik und in den USA landeten, wurde der Rohstoff in Westafrika zu Bronzen verarbeitet. Die sollten daher nicht nur einer Elite zugänglich sein, sondern der Menschheit und künftigen Generationen.
Ursprünglich war geplant, die Bronzen in einem neuen, von Deutschland mitfinanzierten nigerianischen Museum zu präsentieren. Wäre das eine Lösung gewesen?
Nicht einmal das wurde schriftlich fixiert. Dabei wäre Skepsis angebracht gewesen: Nigeria verfügt zwar über nationale Museen, denen es jedoch an ausreichend Finanzierung und an Sicherheit fehlt. Immer wieder wurden Gegenstände aus den Museen gestohlen. Allein ein Blick in die Datenbank zu den Benin-Bronzen verrät, wie lausig die sogenannten identitätsfördernden Stücke dort seit Langem behandelt werden. Von den einst im Nationalmuseum in Lagos etwa 400 vorhandenen Benin-Objekten – der drittgrößten Sammlung weltweit –, sind nur noch 80 Objekte übrig. Alle anderen sind verschwunden.
„Deutschland sitzt bei den kolonialen Debatten
die NS-Schuld im Nacken“
1897 führten die Briten im heutigen Nigeria eine Strafexpedition durch und nahmen dabei rund 4000 Benin-Bronzen an sich. Einen erheblichen Teil ersteigerte der Völkerkundler Felix von Luschan für Berliner Museen. Hätte er besser die Finger davon lassen sollen?
Meines Wissens war der Erwerb völlig okay. Lange Zeit wurde für viele Bronzen übrigens gerade einmal der Materialwert bezahlt. Sie hatten sonst nur symbolischen Wert. Erst als sich der Kunstmarkt in den 1970er-Jahren für sie zu interessieren begann, explodierten die Preise. 2021 wurde eine Benin-Bronze mit 11 Millionen Euro bei einer Auktion verkauft. Die Welt wäre heute viel ärmer, wenn Felix von Luschan und andere Sammler die Bronzen nicht erworben, erforscht und gepflegt hätten – und wenn sie nie in öffentlichen Museen zu sehen gewesen wären. Mir fehlt in der Diskussion eine Wertschätzung dessen, was Museen und Forscher geleistet haben.
Noch befinden sich viele Benin-Bronzen in Deutschland. Sollte die Regierung die Rückgabe stoppen und wäre das völkerrechtlich überhaupt möglich?
Das müssten Sie einen Juristen fragen. Ich weiß nur, dass der Vertrag mit Nigeria zu wenig durchdacht war. Es steht nicht einmal drin, dass die Bronzen ein öffentliches Kulturgut sind und als solche bewahrt werden müssen. In Berlin spricht jetzt niemand darüber, dass sich der nigerianische Präsident über die demokratischen Strukturen des Staates hinweggesetzt hat und die Bronzen in einer autokratischen Verfügung einem König übermacht hat. Man stelle sich mal vor, Bundeskanzler Scholz würde beispielsweise das wiederaufgebaute Berliner Schloss einfach so den Hohenzollern schenken. Derartiges ist in Nigeria geschehen. Und nun wird eine afrikanische Autokratie schöngeredet.
Wollte Außenministerin Baerbock nicht vielleicht einfach ein lästiges Thema abräumen?
Das sicher auch, zumal sie von Nigeria als einem strategischen Partner gesprochen hat, was im Zusammenhang mit der aktuellen Energiepolitik zu sehen ist. Das Flüssiggas, das Deutschland braucht, kommt zum Teil aus dem Nigerdelta. Mit der Rückgabe ließ sich gute Stimmung erzeugen.
Das erklärt aber nicht, warum der öffentliche Streit um die Bronzen derart hitzig verläuft.
Deutschland sitzt bei den kolonialen Debatten die NS-Schuld im Nacken. Dabei möchte man als Musterknabe gelten. Aus deutscher Sicht gibt es nur koloniale Opfer, darunter eben der Oba von Benin. Was diese sogenannten Opfer bis auf den heutigen Tag in ihrem eigenen Land angerichtet haben, wird in Deutschland totgeschwiegen. Man weigert sich, die Hunderttausenden Sklaven der Benin-Könige samt Menschenopfern zur Kenntnis zu nehmen. Auch die Bundesregierung hat im Zuge der Rückgabe nie das Wort „Sklaven“ verwendet. Auf diesem Auge sind viele deutsche Politiker, Wissenschaftler und Museumsleute blind. Immerhin gibt es seit Kurzem in den USA eine kleine, aber wachsende Bewegung, die sich Restitution Study-Group nennt. Es sind die Nachfahren der einst verschleppten Sklaven. Und die befassen sich sehr kritisch mit der Rückgabe der Bronzen ausgerechnet an den Oba.
„Für mich steht der Begriff ‚Beutekunst‘ für die Selbstzufriedenheit des 21. Jahrhunderts“
Manchmal hat man den Eindruck, die europäischen Völkerkundemuseen bestehen im Großen und Ganzen nur aus Beutekunst.
Es ist politisch opportun, so etwas zu behaupten – und polemisch, weil heutige Maßstäbe auf vergangene gesellschaftliche Konflikte und Rechtsverhältnisse angewendet werden. Damit will ich nicht sagen, dass man die Dinge einzig aus ihrer Zeit heraus beurteilen soll, aber man sollte zunächst darstellen, welche Vorstellungen von Recht und Unrecht einst herrschten, bevor man grobes Geschütz auffährt: all die heutigen internationalen Rechtssätze, darunter die UNESCO-Konvention zum illegalen Kulturgüter-Transfer. Man kann und sollte dann immer noch zu neuen Bewertungen kommen. Für mich steht der Begriff „Beutekunst“ für die Selbstzufriedenheit des 21. Jahrhunderts, zumal man gern über Ausbeutungsverhältnisse hinwegschaut, die weiter zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden bestehen.
Gleichwohl werden viele Rückforderungen aus Afrika abgewiegelt, obwohl die Kolonisatoren meist alles andere als zimperlich vorgingen. Daher wird etwa von der Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy eine Umkehr der Beweislast angemahnt: Solange ein Museum nicht beweisen kann, dass ein Gegenstand unter fairen Bedingungen erworben wurde, gilt er als Beutekunst und sollte anstandslos zurückgegeben werden.
Ich bin keine Juristin, aber solch ein Prinzip – das Gegenteil von Unschuldsvermutung – müsste sicher allgemein gelten: für alle Arten von Museen, Archiven und Bibliotheken. Wo soll das hinführen? Wo soll man beginnen? Bei Napoleon, der Raubzüge durch Deutschland unternahm? Oder viel früher? Ich finde es auch bezeichnend, dass es bei den Rückgabeforderungen fast nur um hochpreisige Objekte geht.
Eingangs sagten Sie, Sie seien nicht gegen Restitutionen. Wie hätte eine ideale Rückgabe der Bronzen aussehen können?
In diesem Falle war ich nie für eine Rückgabe. Sie war unbedacht. Ich befürworte shared heritage, also ein gemeinsam getragenes Erbe. Dabei würde dann eine Reihe von Akteuren, nicht nur Staatsoberhäupter, gemeinsam über die einst von Luschan erworbenen Bronzen entscheiden, etwa wo sie ausgestellt werden. Zu diesen Akteuren hätten beispielsweise Museen zählen können, ferner der Oba sowie die Nachfahren der einstigen Sklaven. Solche Ansätze einer Mehreigentümerschaft sollten künftig mehr verfolgt werden.
Interview: Dirk Liesemer
Zusammen mit der australischen Völkerrechtlerin Lyndel V. Prott brachte Brigitta Hauser-Schäublin 2016 das Buch „Cultural Property and Contested Ownership“ (Kulturelles Eigentum und umstrittene Besitzrechte) heraus. 2021 erschien ihr Aufsatz „Provenienzforschung zwischen politisierter Wahrheitsfindung und systemischem Ablenkungsmanöver“ in dem Buch „Geschichtskultur durch Restitution? Ein Kunst-Historikerstreit“ (Bild links), Böhlau 2021, € 45,–