Durch das wilde Pakistan

Erneut haben die Taliban in Afghanistan die Macht übernommen. Auch der Khyber-Pass, die Verbindung zu Pakistan, war in der Vergangenheit hart umkämpft. Ein Jahrhundert lang lieferten sich dort paschtunische Stämme und britische Regimenter ein tödliches Duell. Unser G/GESCHICHTE-Chefredakteur Klaus Hillingmeier begab sich 1991 auf Spurensuche und wagte sich in das kriegerische Berggebiet.

Strategische Serpentinen. Solange Afghanistan Krisengebiet ist, wird auch der Pass in Pakistan nicht zur Ruhe kommen
Strategische Serpentinen. Solange Afghanistan Krisengebiet ist, wird auch der Pass in Pakistan nicht zur Ruhe kommen© Wikimedia

Die Antwort war immer „Nein“. Nach Stunden der pakistanischen Bürokratie in der Behörde für die Stammesgebiete hatte ich den Khyber-Pass fast aufgegeben. Plötzlich wurde ich in ein riesiges Büro mit viktorianischem Schreibtisch zitiert. Der Chef der Behörde war auf den jungen Deutschen neugierig geworden. Es gab Tee, Gebäck und ein erneutes „Nein“.

Auch zwei Jahre nach dem Abzug der Sowjetrussen aus Afghanistan herrschte im März 1991 noch Bürgerkrieg in dem Land am Hindukusch. Pakistan hatte den Khyber-Pass für Ausländer gesperrt. Der Beamte schätzte gute Konversation: Wir philosophierten über hellenistische Kultur, das britische Empire, die Kunst der Großmoguln und schließlich über den Dichter Mirza Ghalib. Die gemeinsame Liebe zur Lyrik hatte das Eis gebrochen: 15 Minuten später stand ich mit einem gestempelten Passierschein auf einer staubigen Straße in Peschawar.

Die eigentümliche Macht der Poesie und unverschleierte Realitäten

Durand-Linie: Seit 1893 verläuft die Grenze zu Afghanistan quer durch das Gebiet der Paschtunen. Grund dafür war, dass die ­Briten den Khyber (Markierung) kontrollieren wollten
Durand-Linie: Seit 1893 verläuft die Grenze zu Afghanistan quer durch das Gebiet der Paschtunen. Grund dafür war, dass die ­Briten den Khyber (Markierung) kontrollieren wollten Agentur2

Peschawars Biografie wird seit Jahrtausenden vom Khyber-Pass geschrieben – wer die Stadt regiert, kontrolliert auch den Zugang zum Pass und damit die wichtigste Route zwischen dem indischen Subkontinent und Mittelasien. Im 2. Jahrhundert n. Chr. ragten in Peschawar die Pagoden des buddhistischen Kuschana-Imperiums in den Himmel. Das Reich erstreckte sich von Nordindien bis nach Persien. 1530 errichtete der Großmogul Babur in der Stadt eine Festung, und im 19. Jahrhundert folgte eine britische Garnison.

Trotz dieser großen Geschichte meidet der Tourismus Peschawar – statt folkloristischer Fassaden herrscht ungeheuchelte Ehrlichkeit. Im „Basar der Diebe“ oder im „Basar der Märchenerzähler“ werden statt Souvenirs Töpfe und Gemüse angeboten, und in den Garküchen brodelt die traditionelle Suppe aus Schafskopf. Obgleich Alkohol und Prostitution verboten sind, kann man nachts unverschleierten „Frauen“ begegnen – tagsüber undenkbar. Der genaue Blick jedoch verrät: Es sind Eunuchen, die erotische Dienste anbieten.

Natürlich war es mir im März 1991 nicht gestattet, auf eigene Faust die Passstraße zu bereisen. Ein junger Stammespolizist sollte meine Sicherheit garantieren und ein „Reiseleiter“ verhindern, dass ich „vom Weg abkomme“. Nach einer kurzen Fahrt durchfuhr unser Taxi Bab-e-Khyber, das Tor zum Khyber. Jetzt waren wir in den halbautonomen Gebieten der Paschtunen (Federally Administered Tribal Areas). Damals herrschte dort statt der Gesetze Pakistans Pashtunwali, der Ehrenkodex der Paschtunen. Gastrecht und Blutrache waren gleichermaßen heilig und es galt das stolze Ideal: „Jeder Mann ein König“. Erst 2017 hat sich Pakistans Parlament endgültig von der Laisser-faire-Politik verabschiedet und beschlossen, die paschtunischen Stammesgebiete härter an die Kandare zu nehmen.

Tor zu den Reichtümern Indiens und Bollwerk des britischen Empires

Auf gut 50 Kilometern Länge durchschneidet der Khyber-Pass das Hochland der Paschtunen. Die Hopliten Alexanders des Großen, die Horden Dschingis Khans und die Reiter Timurs – immer wieder strömten Heere aus dem Westen durch diese Schluchten, angezogen von den Reichtümern Indiens. Wer klug war, vermied den Kampf und arrangierte sich mit den kriegerischen Stämmen im Gebirge. Selbst die machtverwöhnten Großmoguln entrichteten Wegegeld an die Bergkrieger, wenn sie von ihrer Residenz in Lahore nach Kabul reisten.

Am Eingang zum Pass schmücken britische Regimentswappen eine Felswand. Über ein Jahrhundert, von 1842 bis 1947, war der Khyber immer wieder die Bühne brutaler Kämpfe zwischen der angloindischen Armee und Paschtunen. Der hundertjährige Krieg begann, als die britische East India Company versuchte, aus Afghanistan einen Marionettenstaat zu machen. Das Experiment endete 1842 mit einem Massaker, bei dem fast 16 000 Menschen – größtenteils Zivilisten – ihr Leben verloren. Trotz dieser traumatischen Niederlage dachten die Briten nicht daran, ihre Militärpräsenz in der Grenzregion aufzugeben. Denn Mitte des 19. Jahrhunderts expandierte das Zarenreich nach Mittel­asien und das Gespenst einer russischen Invasion Indiens spukte in den Köpfen der britischen Generalität.

Ein britischer Offizier (hinten rechts) umringt von afghanischen Stammesführern vor der Festung Jamrud an der Mündung des Khyber-Passes, 1878
Ein britischer Offizier (hinten rechts) umringt von afghanischen Stammesführern vor der Festung Jamrud an der Mündung des Khyber-Passes, 1878 Wikimedia/John Burke

Wegen seiner strategischen Bedeutung galt der Khyber als das Gibraltar Indiens: Eine Position, die um keinen Preis aufgegeben werden durfte. Forts und Garnisonen wurden entlang des Passes errichtet und jede militärische Aktion der Paschtunen mit einer Strafexpedition beantwortet. Wer als Offizier einen riskanten Weg zur steilen Karriere suchte, musste sich an die damalige Nordwestgrenze Indiens versetzen lassen. Hier galten die Regimenter als pukka – ein Hindiwort, das man salopp mit „erste Sahne“ übersetzen kann. Keine Einheit war glamouröser als die „Guides“, das erste britische Regiment, das anstelle der roten Uniformen staubbraunes Kaki anlegte, um den Scharfschützen in den Bergen kein Ziel zu bieten.

Bodyguards mit Kalaschnikow und der süße Geruch von Opium

Der Autor und G/GESCHICHTE-Chefredakteur Klaus Hillingmeier (links) mit „Leibwächter“, 1991
Der Autor und G/GESCHICHTE-Chefredakteur Klaus Hillingmeier (links) mit „Leibwächter“, 1991 privat

Auf halber Strecke nach Afghanistan liegt Ali Masjid. Hier, wo der Pass zum Nadelöhr wird, erinnert ein unscheinbarer Schrein an Ali, den Schwiegersohn des Propheten Mohammed. Er soll hier im 7. Jahrhundert eine Moschee errichtet haben. Der gewundenen Straße folgend, befindet sich gut 15 Kilometer entfernt die Stadt Landi Kotal. 1991 brauchte der Besucher starke Nerven. Als wir vor einer Teestube Pause machten, brausten zwei geländegängige Pick-ups heran, auf der Ladefläche ein gutes Dutzend Männer mit Kalaschnikows. Nach der Interpretation meines Reiseführers die Leibwache eines lokalen Drogenbarons. Zu meiner Verblüffung erwiesen sich diese Bodyguards als ungemein freundlich und posierten bereitwillig mit erhobenem Gewehr und breitem Grinsen für ein Gruppenfoto.

Fast jedes männliche Wesen – vom pubertierenden Knaben bis zum gebeugten Greis – trug in Landi Kotal eine Waffe. Entweder ein begehrtes Beutestück der Mudschahed aus russischen Beständen oder ein einheimisches Fabrikat aus dem nahen Ort Darra, wo seit Kolonialzeit Schusswaffen in mühevoller Handarbeit kopiert werden. Vor etlichen Läden im Basar schaukelten aufgeblasene Ziegenhäute im Wind – Werbeschilder für den Verkauf von Opium. Am pakistanischen Grenzort Torkham endet eine Reise auf dem Khyber-Pass, und der Teppich der afghanischen Landschaft breitet sich vor dem Betrachter aus. Neue Ziele erheben ihren Lockruf: Kabul, Samarkand, Isfahan.