Vom Scheitel bis zur Sohle ein Kalter Krieger: Henry Kissinger bastelt an Amerikas Sicherheitsarchitektur mit dem Eifer eines Missionars. Der Feind steht links: Die UdSSR und die Volksrepublik China nach außen; Liberale, Demokraten, Kleinmütige und Entspannungsbefürworter nach innen. An der Seite von US-Präsident Richard Nixon, der ihn zunächst zum Nationalen Sicherheitsberater und 1973 zu seinem Außenminister macht, steigt er in den Jahren zwischen 1969 und 1977 zur bestimmenden Figur in der US-Außenpolitik auf. Sein Einfluss reicht weit über diese Zeitspanne hinaus: Als Buchautor, Vortragsredner, Unternehmensberater und Memoirenschreiber verschafft er sich weltweit Gehör. Bis heute. Seine letzte umfangreiche Publikation „Staatskunst“ stammt aus dem Jahr 2022 und erteilt dem 21. Jahrhundert anhand sechs exemplarischer Politiker-Biografien „sechs Lektionen“. Kissinger scheint, kurz vor seinem 100. Geburtstag, nicht müde, die Welt nach seinen Maßstäben erklären und belehren zu wollen.
Stärke zu zeigen und den Kopf immer oben zu behalten, mag dem Staatsmann als Kindheitstrauma mit auf den Lebensweg gegeben worden sein. Geboren am 27. Mai 1923 im fränkischen Fürth bekommt der kleine Heinz Alfred Kissinger gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Walter die letzten Tage der Weimarer Republik und den Aufstieg der Nationalsozialisten mit. Er spürt, wie sich die Schlinge des Verderbens um seine jüdische Familie immer enger zieht. Sein Vater verliert die Arbeit als Lehrer, ihm selbst wird der Wechsel aufs Gymnasium verwehrt. Sogar die Spiele des geliebten Fußballklubs Spielvereinigung (SpVgg) Fürth sind tabu. Ende August 1938 emigriert die Familie in die Vereinigten Staaten und wagt in New York den Neuanfang. Heinz, fortan Henry genannt, gilt als linkisch, gehemmt und unsicher. Dafür ist er bienenfleißig und mächtig belesen. Endgültig in der neuen Welt angekommen ist er mit seinem Eintritt in die US-Armee, der ihm 1943 die Einbürgerung einbringt und ihn für kurze Zeit im Rahmen des Zweiten Weltkriegs nach Deutschland zurückführt.
Im Kampf gegen den Kommunismus will er auch den Atomkrieg nicht scheuen
An der Kaderschmiede des Kalten Kriegs – der Universität Harvard – erhält Kissinger mithilfe eines Stipendiums seine Ausbildung zum künftigen Politiker. Die akademische Elite Harvards verschreibt sich ganz dem Abwehrkampf gegen den Kommunismus. Der junge Dozent Kissinger, inzwischen in Politikwissenschaft promoviert, betritt die öffentliche Bühne gleich mit einem Paukenschlag: Sein Buch „Kernwaffen und Auswärtige Politik“ von 1957 wird sofort zum Bestseller. Der junge Stratege plädiert darin für einen „begrenzten Atomkrieg“, den er für beherrschbar hält. „Das Nuklearwaffenarsenal der USA ist nur dann etwas wert, wenn wir bereit sind, es zu nutzen“, sinniert er. „Wenn wir uns in dem atomaren Patt oder Beinahe-Patt, das sich abzeichnet, nicht selbst zur Ohnmacht verdammen wollen, sind wir gut beraten, eine andere Politik zu entwickeln.“ All jenen, die sich gegen die konkurrierenden Großmächte Sowjetunion und China einen harten Kurs wünschen, kommen die steilen Thesen des erst 34-Jährigen wie gerufen.
Seine Stunde schlägt 1968, als der republikanische Präsidentschaftskandidat Richard Nixon die Wahlen gewinnt und Kissinger ins Weiße Haus holt. Jetzt kann er seine knallharte außenpolitische Linie umsetzen. Nirgendwo ist er bereit, auch nur ein Promille von Amerikas Weltmachtstatus preiszugeben – ob in Vietnam, Chile, im Nahen Osten, in Osttimor oder Angola.
Für seine Ziele geht der Sicherheitsexperte buchstäblich über Leichen: Nordvietnam wird erneut zerbombt und „systematisch platt gemacht“, die Nachbarländer Laos und Kambodscha völkerrechtswidrig in Schutt und Asche gelegt. Nordvietnams Verbündete in Moskau und Peking lässt Kissinger wissen, dass er nicht garantieren könne, den „Verrückten im Weißen Haus“ daran zu hindern, noch weit Gefährlicheres einzusetzen. Die „Madman-Theorie“ wird zu Kissingers liebster Spielwiese; beständig schürt er die Angst vor einem Atomkrieg. Unberechenbarkeit wird zum Mittel seiner Politik.
Pendeldiplomatie und Unterstützung für brutale Diktatoren
Um den roten „Bastarden“ eins auszuwischen, legt sich Kissinger auch ungeniert mit Tyrannen ins Bett. In Chile sorgt er 1973 mit verdeckten CIA-Aktionen für den Sturz des demokratisch gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende und ebnet damit den Weg für den Aufstieg des Generals Augusto Pinochet. Der erfreut sich lange des Wohlwollens der USA, trotz seiner Gewaltherrschaft mit zahlreichen Folteropfern und Ermordeten. Auch dem Diktator Indonesiens, Suharto, gibt Kissinger grünes Licht für die völkerrechtswidrige Besetzung Osttimors im Jahr 1975, die etwa einem Drittel der Bevölkerung das Leben kostet.
Entspannungspolitik ist laut Kissinger nur etwas für „Einfaltspinsel“ und „grauhaarige Mittelklasse-Trottel“. Dennoch leitet er sie ein – weil sie ihm politisch zweckmäßig erscheint. Er besucht 1971 im Geheimen Moskau und Peking und bereitet zur Überraschung aller den ersten Rüstungsbegrenzungsvertrag, den SALT-I-Vertrag, mit der Sowjetunion vor. Er sonnt sich im Glanz des Überraschungseffekts, auch wenn er intern zu verstehen gibt: „Ein SALT-Abkommen können wir uns leisten. Das wird für uns keine Nachteile bringen. Es wird rein gar nichts bedeuten.“
Tatsächlich wird SALT I ein Erfolg, später kommen weitere Verträge hinzu, und Kissinger gilt seither zu Recht als einer der Architekten der Entspannung. Auch für seine Pendeldiplomatie erntet er internationale Anerkennung. 1973 erhält er gemeinsam mit dem vietnamesischen Politiker Lê Đức Thọ den Friedensnobelpreis für ein Waffenstillstands- und Abzugsabkommen mit Nordvietnam.
Dennoch beginnt sein Stern zu sinken. Allzu selbstherrlich agiert er am Verteidigungsministerium und den Mitarbeitern im Außenministerium vorbei und nutzt ausschließlich geheime Gesprächskanäle. Dafür gibt es zunehmend Kritik. Als Chef ist Kissinger ohnehin eine Katastrophe. Maßlos eitel kanzelt er jede Gegenposition ab, lässt aus Furcht vor undichten Stellen seine eigenen Mitarbeiter im Nationalen Sicherheitsrat abhören und leistet sich Tobsuchtsanfälle bei kleinsten Anlässen. Selbst engen Wegbegleitern wird das allmählich zu bunt. Mit dem Amtsantritt von Jimmy Carter 1977 ist Schluss für den politischen Tausendsassa. Kissinger geht in Rente.
Kissinger nutzt seine Berühmtheit für gut dotierte Jobs als Autor und Redner
Es gelingt ihm, der Liebling der Öffentlichkeit zu bleiben. Als Elder Statesman nimmt er immer wieder Stellung zu Themen seiner Zeit. Er zeigt sich gerne auf Partys, tingelt von einer Vortragsreihe zur anderen und betätigt sich als erfolgreicher, hoch bezahlter Unternehmensberater. Selbstverständlich strickt er dabei an seiner eigenen Legende. »Ich bin eine weltweite Berühmtheit. Ich kann einfach nicht das Leben eines normalen Professors führen«, sagt er ganz unbescheiden.
Trotz internationaler Anerkennung fällt die Lebensbilanz zum Hundertsten nicht ungetrübt aus. Die Schattenseiten in Kissingers politischer Bilanz fallen zu schwer ins Gewicht. Manche sehen in ihm einen Kriegsverbrecher. Den Machtmenschen dürfte das nicht anfechten: „Wie soll man denn Diplomatie ohne Androhung der Eskalation betreiben?“, wischt er alle Bedenken zur Seite.