Ein Zar wird Zimmermann

Es gab eine Zeit, als Russland sich nach Westen öffnete: Peter der Große ist 1697 schon Russlands Herrscher, da verdingt er sich als Handwerker in den Niederlanden – eigentlich inkognito, aber das klappt natürlich nicht ganz.

Der Schiffsbau interessiert den Zaren (links mit Säge) – sei es in den Niederlanden oder wie hier im Londoner Deptford Dock
Der Schiffsbau interessiert den Zaren (links mit Säge) – sei es in den Niederlanden oder wie hier im Londoner Deptford Dock© Wikimedia/Daniel McLEAS

Der Zar steht am östlichen Ende des Hafens von Amsterdam. Vor ihm liegen die Werften der Niederländischen Ostindien-Kompanie. An den Kais sieht er Hunderte Segelschiffe – Masten ragen empor, Taue und Segeltuch liegen herum. In der Werft vor ihm reparieren Arbeiter den Rumpf eines Schiffes. Sie kratzen Seetang und Muscheln ab, schlagen morsche Planken heraus, nageln neue Bretter fest und gießen Teer in die Ritzen.

Was Zar Peter I. beobachtet, ist die wohl bedeutendste Industrie der Niederlande. In den Werften bauen und reparieren die Amsterdamer die Schiffe, die der Handelsnation Wohlstand und Einfluss gebracht haben. Doch Peter ist nicht gekommen, um nur zu staunen. Er trägt eine weiße Hose und ein rotes Hemd, die Klamotten eines Lehrlings. Über der Schulter hängt ein Beil. Die anderen Arbeiter warten bereits auf ihn. Heute beginnt der Zar von Russland eine Lehre als Schiffszimmermann.

Der Aufenthalt in den Niederlanden im Jahr 1697 ist das wohl zentrale Erlebnis in Peters Leben und erklärt, warum der Zar das Russische Reich so radikal verändern wird. Russlands Wirtschaft befindet sich damals noch im Mittelalter, ein mächtiger Adel herrscht über eine feudale Gesellschaft, Leibeigene schuften auf dem Feld, Industrie gibt es kaum.

Mehr als 250 Reisende brechen auf. Peter steht nicht auf der Liste

Peter regiert da erst seit wenigen Jahren. Im Süden bedrohen die Osmanen die Grenze, viele Adelige sähen lieber seine Schwester auf dem Thron. Trotzdem kündigt Peter eine Reise durch Westeuropa an. Zum ersten Mal verlässt ein russischer Zar in Friedenszeiten sein Reich. Peter möchte Verbündete gegen die Osmanen finden, aber auch neue Technologien kennenlernen – verstehen, wie sie funktionieren, und sie in Russland kopieren. Heute würde man es wohl Industriespionage nennen. Ihn faszinieren Teleskope, Kanonen, aber vor allem Schiffe. Denn von einer schlagkräftigen Flotte, so ist er überzeugt, hängt die Zukunft seines Landes ab.

Im März 1697 bricht Peter nach Westen auf. Sein Tross, die „Große Gesandtschaft“, umfasst mehr als 250 Personen: Diplomaten, Sekretäre, Soldaten, Diener und Volontäre, die verschiedene Handwerke erlernen sollen. Nur der Zar steht nicht auf der Liste. Peter ist inkognito dabei – als Leutnant Peter Michailow. So will er höfischem Zeremoniell entgehen und sich frei bewegen können. Die Diplomaten, die mitreisen, sollen für ihn die offiziellen Termine übernehmen. Die Reise führt übers Baltikum und Polen zunächst nach Brandenburg. Doch der Zar interessiert sich vor allem für die Niederlande. Peter ist so neugierig, dass er seine Gesandtschaft am Rhein zurücklässt, ein Boot mietet und mit sechs Begleitern in die Niederlande übersetzt.

Die Vereinigten Niederlande erleben damals ihr sogenanntes Goldenes Zeitalter. Peter segelt durch Kanäle, die das Land miteinander wie Schnellstraßen verbinden. Er sieht Deiche, Papiermühlen, gepflasterte Straßen, Straßenlaternen und Häuser mit sieben Stockwerken. Es ist der wohl modernste Staat der Welt. Den Wohlstand verdankt er seiner Handelsflotte und den riesigen Häfen von Rotterdam und Amsterdam. Fast der gesamte europäische Handel läuft über diese Knotenpunkte. Schiffe bringen Wein aus Frankreich, Zinn aus England und Wolle aus Spanien, die man zu Textilien weiterverarbeitet.

Russland hat weder Kriegsschiffe, noch einen Hafen an der Ostsee

Dazu beuten die Niederlande ihr Kolonialreich aus. Täglich laufen Schiffe der Niederländischen Ostindien-Kompanie in die Häfen ein, beladen mit Pfeffer, Tee und Seide aus der Karibik, Indien und Indonesien. Für viele der Handelsrouten haben die Niederländer Monopole, in den Seehäfen der Welt spricht man Niederländisch. So auch im russischen Don-Hafen von Woronesch oder in Archangelsk am Arktischen Ozean. Dort hat Peter schon als Jugendlicher seine ersten Worte Niederländisch gelernt. Er hörte den Matrosen aus Amsterdam zu und begeisterte sich für ihre Schiffe. Sie erzählten ihm von einem Ort namens Zaandam, wo jedes Jahr 350 Schiffe gebaut würden. Russland verfügt über kein einziges Kriegsschiff, im Schwarzen Meer dominiert die Flotte der Osmanen. An der Ostsee hat Russland nicht einmal einen Seehafen. Peter will das ändern. Sein erstes Ziel in den Niederlanden ist daher der Industrieort Zaandam nördlich von Amsterdam.

Als Peter dort ankommt, kauft er Beil und Hammer und geht zur Werft. Auf einer Liste trägt er sich unter dem Namen Peter Michailow als einfacher Arbeiter ein. Er beginnt, Holzstücke in Form zu schlagen. Immer wieder unterbricht er die Arbeit, um den Vorarbeiter nach dem Namen von Schiffsteilen zu fragen. Nach den ersten Arbeitstagen verkündet Peter auf Niederländisch: „Ook ik ben timmerman.“ Auch ich bin ein Zimmermann.

Aber der wohl 2,03 Meter große Mann mit dem russischen Akzent erregt Aufsehen. Manche der Matrosen, die in Russland waren, erkennen den Zaren wieder. Bald kommen Menschen herbei, um zu schauen, ob es stimmt, dass der Zar von Russland hier Bretter hobelt. Sogar aus Amsterdam reisen sie auf Ausflugsschiffen an, Menschenmengen umringen ihn schließlich. Ein Mann kommt ihm so nahe, dass Peter ihm eine Ohrfeige verpasst. Eine Zuschauerin ruft: „Bravo! Er hat dich zum Ritter geschlagen!“

Bankett, Ballett und die Hoffnung auf gute Geschäfte in Russland

In der Zwischenzeit ist die offizielle russische Gesandtschaft in den Niederlanden angekommen. Peter segelt nach Amsterdam zurück, um sie zu treffen. In der Stadt hat man längst mitbekommen, welcher berühmte Gast im Land weilt. Die Ratsherren begrüßen Diplomaten und Zar mit einem Feuerwerk über der Amstel, abends gibt es Ballett und Oper. Die Amsterdamer hoffen auf gute Geschäfte mit Russland.

Beim Bankett sitzt Peter neben dem Bürgermeister, Nicolaes Witsen. Die beiden mögen sich sofort. Nach dem Essen zeigt Witsen dem Zaren seine Modellschiffe und Kompasse. Peter erzählt von seiner Arbeit als Zimmermann und den Menschenmassen in Zaandam. Witsen hat eine Idee: Peter könne in den Werften der Ostindien-Kompanie arbeiten. Die Mauern der Werft würden ihn vor neugierigen Blicken schützen. Der Zar ist begeistert.

Von nun an kommt Peter täglich im Morgengrauen zur Werft im Osten Amsterdams, um das Handwerk eines Schiffszimmermanns zu erlernen. Der Vorstand der Ostindien-Kompanie ordnet an, dass für Peters Lehre ein neues Schiff gebaut werden soll, eine 100 Fuß lange Fregatte. Die niederländischen Werftarbeiter legen alle Einzelteile zurecht, sodass Peter sie begutachten kann. Dann beginnen sie, das Schiff vom Kiel bis zum Mast zusammenzusetzen.

Peter lernt, wie man Schiffspläne zeichnet, wie man nagelt, schreinert, hobelt. Er will alles selbst ausprobieren, packt auch bei schweren Planken mit an. Bald zieren Schwielen seine Hände. In den Pausen sitzt er auf einem Baumstamm und unterhält sich mit den anderen Arbeitern. Er lehnt es ab, mit Titeln angesprochen zu werden, die Arbeiter nennen ihn bloß „Timmerman Peter“ oder „Baas (Meister) Peter“.

Liegt sie gut? Im Hafen von Amsterdam besichtigt Peter (auf dem kleinen Segelschiff rechts) die Fregatte „Peter und Paul“ (links), die er mitgebaut hat
Liegt sie gut? Im Hafen von Amsterdam besichtigt Peter (auf dem kleinen Segelschiff rechts) die Fregatte „Peter und Paul“ (links), die er mitgebaut hat Wikimedia/ahm.adlibsoft.com

Peter lernt, wie man Wale fängt und Leichen seziert

Doch Peter braucht für Russland nicht nur Schiffe. Immer wieder unterbricht er seine Arbeit und reist durch die Niederlande. Er besucht Sägewerke, Spinnereien, Papierfabriken. Überall fragte er: „Wofür ist das? Wie funktioniert das?“ Er begleitet Waljäger in der Nordsee, er trifft den Festungsbaumeister Baron von Coehorn, er lernt, wie man Zähne zieht und Leichen seziert. Der Naturforscher Antoni van Leeuwenhoek, der die Technik des Mikroskops perfektioniert hat, zeigt Peter Spermien in nahezu 300-facher Vergrößerung.

An freien Tagen läuft der Zar durch Amsterdam, sieht die Märkte mit Bergen von Käse, die Grachtenhäuser aus Backstein, die gut gekleideten Bürger. Was Peter in den Niederlanden erlebt, muss ihn faszinieren und verstören. Warum sind die winzigen Niederlande so fortschrittlich und reich im Vergleich zu Russland, dem größten Land der Welt mit seinen vielen Rohstoffen? Peter beginnt, Experten aus allen Gebieten abzuwerben: pensionierte Kapitäne, Schiffshandwerker, Artilleriemeister, aber auch Ärzte und Gelehrte. Er verspricht Land und Titel, wenn sie ihm nach Russland folgen. Ihr Wissen soll sein Land transformieren.

Peter trifft sich auch mit dem Statthalter der Niederlande, Wilhelm von Oranien. Er möchte ihn überzeugen, Russland im Krieg gegen die Osmanen beizustehen und dafür 70 Kriegsschiffe und 100 Galeeren zu liefern. Aber die Niederlande wollen sich nicht in den Konflikt einmischen, denn Krieg ist schlecht für den Handel.

Hunderte Experten kommen mit nach Russland

Neun Wochen nach Kiellegung ist immerhin Peters Fregatte fertig. Der Zar erhält ein Zeugnis für seine Arbeit. Werftmeister Gerrit Claesz Pool schreibt: „Ich bezeuge, dass Peter Michailow (zum Gefolge der großmoskowitischen Gesandtschaft gehörig) auf der ostindischen Schiffszimmerwerft sich während seines edlen Aufenthaltes als fleißiger und tüchtiger Zimmermann benommen hat.“ Bürgermeister Witsen kommt persönlich zur Taufe und schenkt Peter das Schiff. Der Zar ist zu Tränen gerührt und umarmt seinen Freund.

Als Peter 1698 nach Russland zurückkehrt, bringt er Hunderte Experten aus den Niederlanden und England mit. Dazu Anker, Taue, Messinstrumente, Schiffskanonen und Ruder. Bald beginnen in den Werften am Don russische Zimmermänner, die ersten Fregatten und Linienschiffe zu bauen. Immer wieder kommt der Zar persönlich vorbei, kontrolliert die Arbeiten, gibt Ratschläge. Sein riesiges Reformprogramm hat gerade erst begonnen.