Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,

in den Debatten um Einwanderung und Integration war in den letzten Jahren oft der Ruf zu hören nach einem europäischen Islam, Euro-Islam oder Islam europäischer Prägung. All diese Begriffe drücken den Wunsch aus nach einer liberalen Koranauslegung, die sich abhebt von den aggressiv-fundamentalistischen Strömungen, die besonders im Nahen Osten und Nordafrika grassieren – und auch hierher gelangt sind.

Die gut gemeinten Appelle von Politikern und Intellektuellen sind bislang weitgehend wirkungslos verhallt. Was nicht verwundert: Meist wirken sie abgehoben, ohne Bezug auf religiöse Traditionen. Dabei gäbe es ein historisches Vorbild. Im muslimischen Spanien, al-Andalus genannt, wurden im 10. Jahrhundert etwa der Genuss von Wein und andere Freiheiten praktiziert, die der real existierende Islam heute nicht mehr gewährt. „Mehr als irgendwo sonst in der islamischen Welt gab es in al-Andalus Ansätze zur Überwindung engstirniger Dogmen, der Unterdrückung der Frau, der Ausgrenzung anderer Religionen“, erklärt Georg Bossong, Romanistikprofessor und Experte für das maurische Spanien (siehe Beitrag ab Seite 34).

Dieser frühe europäische Islam brachte eine ungeahnte kulturelle Blüte. Doch er war nicht von Dauer, eingekeilt zwischen islamisch-fundamentalistischen Berbern im Süden, Christen im Norden und scheiternd auch an inneren Verwerfungen. „Für den Islam war die Abkehr von der Aufklärung, wie sie in al-Andalus angelegt war, eine Katastrophe“, bedauert Bossong. „Denn fehlende Rationalität ermöglicht bis heute immer wieder die Wiederbelebung eines ungezähmten, gewaltbereiten Ur-Islam.“

Ihr

Christian Pantle
Chefredakteur