Liebe Leserin, lieber Leser,
sie nähren sich von Fiktionen, haben aber oft reale Folgen: Verschwörungstheorien, auch abstruse, können Revolutionen entfachen oder Massenmorde auslösen. George Washington und seine Mitstreiter etwa glaubten 1774 ernsthaft, dass sich die britische Regierung dazu verschworen hatte, die amerikanischen Siedler wie Sklaven zu unterdrücken – im Jahr darauf begann der Unabhängigkeitskrieg. Antisemitische Verschwörungstheorien führten im Mittelalter zu Pogromen wegen angeblicher Brunnenvergiftung und später zum größten Menschheitsverbrechen überhaupt, dem Holocaust.
Sowohl Folge als auch Auslöser von Verschwörungstheorien sind die Hexenverfolgungen in Europa. Sie entstanden aus der Einbildung, dass bestimmte Personen mit dem Teufel konspirieren, um anderen zu schaden. Als der Wahn vorbei war, gaben die Erklärungsversuche für das grauenhafte Geschehen den Anstoß zu einer neuen Verschwörungstheorie: Die Kirche habe geplant, heilkundige und weise Frauen zu eliminieren, um das Wissen über Geburtenkontrolle auszulöschen und so das weibliche Geschlecht effektiver zu unterdrücken.
Die jüngste Forschung hat solche Behauptungen – die bis heute kursieren – widerlegt. Dafür kamen die Wissenschaftler zu Ergebnissen, die noch beunruhigender sind: Die Hexenverfolgungen stellen kein europäisches Phänomen dar, sondern ein weltweites. Die treibenden Kräfte waren und sind in der Regel nicht finstere Institutionen, sondern Menschen aus der Bevölkerung, sehr oft Verwandte oder Nachbarn der späteren Opfer. Eine Reise in die Geschichte des Hexenwahns ist auch eine Reise in die Abgründe der menschlichen Existenz.
Ihr
Christian Pantle
Chefredakteur