Editorial

„Uns ist in alten mæren“ – mit diesen Worten beginnt die Handschrift C des Nibelungenliedes. Doch was versteht der unbekannte Verfasser des Nibelungenliedes eigentlich unter einer Märe? Märchen, Sage oder historische Überlieferung? Der historische Kern der Dichtung lässt sich zeitlich ins frühe 5. Jahrhundert verorten. Es sind die wilden Tage, als die germanischen Burgunder ihr erstes Königreich am Rhein gründen und das ganze Abendland vor den hunnischen Horden Attilas zittert.

Doch einige Figuren entstammen einer archaischen Nebelwelt: Der Hüne Siegfried, der Drache Fáfnir, der Zwerg Alberich und Brünhild, mehr Halbgöttin als Frau. Dieses heidnische Personal scheint Sagen entsprungen zu sein, die schon in den Tagen der Völkerwanderung alt waren. Egal ob historische Figur oder Sagengestalt: Die Protagonisten des mittelalterlichen­ Nibelungenliedes lieben, hassen und morden in der Lebenswelt seines Dichters – der höfischen Welt der Kreuzzugsära.

Es sind gerade diese vielen Facetten, die das Epos erstrahlen lassen. Die romantischen Bilder des Malers Schnorr von Carolsfeld bleiben der ritterlichen Epoche des christlichen Mittelalters verpflichtet, während Richard Wagner einen düster-heidnischen Kosmos in seinem Bühnenwerk „Der Ring des Nibelungen“ beschwört. Die Vereinnahmung durch das NS-Regime hat das Epos lange seines Glanzes beraubt. Doch in Zeiten von „Der Herr der Ringe“ und „Game of Thrones“ wäre dem würdigen Werk eine Renaissance zu wünschen.

Ihr, Euer

Dr. Klaus Hillingmeier
Chefredakteur