Liebe Leserin, lieber Leser,
unser Gedächtnis funktioniert nicht wie ein Rekorder, der Erlebtes aufzeichnet, abspeichert und bei Bedarf abspult. Führende Neurowissenschaftler wie Daniela Schiller aus New York haben vielmehr nachgewiesen, wie instabil unsere Erinnerungen sind: Jedes Mal, wenn wir sie abrufen, formen wir sie um – indem wir etwa aktuelle Gefühle oder Infos von anderen Menschen dazupacken – und speichern dann die neue Version ab. „Wir erinnern uns nicht an die Originalversion, sondern an die Überarbeitung durch das Gehirn“, erklärt Schiller.
Verändern lässt sich nicht nur die individuelle Erinnerung, sondern auch die kollektive. Ein Musterbeispiel dafür ist der katholische Attentäter Guy Fawkes, der England zurück in den alten Glauben bomben wollte. Seitdem seine Pläne am 5. November 1605 gescheitert sind, feiern das die Engländer jedes Jahr mit Umzügen, bei denen Guy-Fawkes-Puppen in Flammen aufgehen. Was dem Comiczeichner David Lloyd missfiel: „Wir sollten den Kerl nicht an jedem 5. November verbrennen, sondern ihn feiern für seinen Versuch, das Parlament zu sprengen!“, schrieb er seinem Kompagnon Alan Moore. Und so schufen die beiden ab 1982 den Comic „V wie Vendetta“, in dem ein Widerstandskämpfer mit Guy-Fawkes-Maske nach dem dritten Weltkrieg gegen ein faschistisches Regime in England kämpft. Der Comic wurde 2005 verfilmt, Protestbewegungen übernahmen die Maske, und seither steht Guy Fawkes nicht mehr für rückwärtsgewandten Fanatismus, sondern für progressiven Protest gegen das Establishment. Erinnerungs-Überarbeitung geglückt!
Ihr
Dr. Christian Pantle
Chefredakteur