Am 23. Juli wird im Erzbistum Paderborn das Hochfest des heiligen Liborius gefeiert. Die damit zusammenhängende neuntägige Festzeit zieht jährlich bis zu zwei Millionen Menschen an die Quellen der Pader. Sie beginnt in der Regel, falls das Fest nicht auf einen Samstag oder Sonntag fällt, am ersten Samstag nach dem 23. Juli mit der Feier der Ersten Vesper, dauert bis zum darauffolgenden Sonntag und wird in Paderborn auch als „fünfte Jahreszeit“ bezeichnet. Dabei erschallt im Dom und in den Straßen der westfälischen Stadt mehrfach ein von vielen mit Inbrunst gesungenes Lied, dessen erste Strophe lautet: „Sei gegrüßet, o Libori, dessen Namen Ehr und Glorie Gott auf Erden groß gemacht; sei gegrüßt im Himmel droben, wo dich Christus hoch erhoben und die Krone dir gebracht!“ (GL Paderborn 840). Die weiteren vier Strophen des aus dem Jahre 1765 stammenden und von Maria Luise Thurmair 1972 textlich neu gefassten Liedes loben das christliche Lebenszeugnis des Heiligen, rufen ihn als Fürsprecher bei Gott an und bezeichnen ihn u. a. als Helfer in der Not, Schutzherrn und Gottes Freund. Doch wer war dieser Heilige, der in Paderborn als Dom-, Stadt- und Bistumspatron verehrt wird?
Liborius und sein Weg nach Paderborn
Liborius stammte wohl aus einer vornehmen gallischen Familie, wirkte im vierten Jahrhundert als einer der ersten Bischöfe von Le Mans in Frankreich und war Zeitgenosse des heiligen Martin von Tours, mit dem er befreundet gewesen sein soll. Nach seinem Tod 397 (?) wurde von einigen Heilungswundern berichtet, die seine Verehrung begründeten. Auf Veranlassung von Kaiser Ludwig dem Frommen (778–840) überließ Bischof Aldrich von Le Mans (800– 857), der sächsischer Herkunft war, dem Paderborner Bischof Badurad (um 780–862) im Jahre 836 die Reliquien des heiligen Liborius, die am Pfingstfest jenes Jahres in Paderborn ankamen. Auch bei der Prozession zur Übertragung der Reliquien wurde von Zeichen und Heilungswundern berichtet. Der Legende nach begleitete ein Pfau die Gruppe von Pilgern, die von Le Mans nach Paderborn unterwegs war. Am Ziel angekommen, soll er auf die Spitze des Domturms geflogen und von dort tot zu Boden gefallen sein, als die Prozession mit den Reliquien in die Kirche eingezogen war und er damit seinen „Auftrag“ erfüllt hatte. Aufgrund dieser Legende wird dem Schrein des Liborius beim jährlichen Fest bis heute ein Flabellum, also ein liturgischer Fächer, vorangetragen, der in Paderborn aus Pfauenfedern besteht und daher auch „Pfauenwedel“ genannt wird. Der Pfau ist der christlichen Ikonographie auch sonst nicht unbekannt. Der Pfau wurde in frühchristlicher Zeit zu einem Sinnbild der Unsterblichkeit, weil man davon ausging, dass sein Fleisch unverweslich sei, und deshalb u.a. in Katakomben künstlerisch dargestellt.
Von erheblicher politischer Bedeutung ist, dass mit der Übertragung der Reliquien des heiligen Liborius von Le Mans nach Paderborn im Jahre 836 ein „Liebesbund ewiger Bruderschaft“ geschlossen wurde, der auch während politisch schwieriger Zeiten in Deutschland und Frankreich zwischen beiden Völkern Bestand hatte, bis heute gepflegt wird und zuletzt 2016 vom Paderborner Erzbischof Hans-Josef Becker und von Bischof Yves Le Saux aus Le Mans erneuert wurde (vgl. www.erzbistum-paderborn.de/38-Nachrichten/20277,Liebesbund-ewiger-Bruderschaft-erneuert.html).
Das Liborifest und seine Geschichte
Die Geschichte des Liborifestes ist dagegen sehr wechselvoll. Nach einer ersten Blütezeit der Liborius-Verehrung im Paderborn des Mittelalters und der Frühen Neuzeit führte der Dreißigjährige Krieg, der Europa von 1618 bis 1648 in eine tiefe Krise stürzte, zu einer ersten Zäsur. Christian von Braunschweig- Wolfenbüttel (1599–1626), „toller Christian“ genannt, plünderte 1622 den Domschatz und ließ den – auch materiell – wertvollen Liboriusschrein in Lippstadt einschmelzen. Die Reliquien kehrten erst 1627 wieder nach Paderborn zurück und begründeten den Gedenktag De reductione reliquiarum sancti Liborii, also den Gedenktag von der Rückführung der Reliquien des heiligen Bischofs Liborius, der in der Kathedrale bis heute am 25. Oktober als Fest gefeiert wird und als „Kleinlibori“ den religiösen Hintergrund für eine weitere Kirmes- Woche im Herbst bietet.
Ein glanzvoller Höhepunkt der Geschichte des Liborifestes war – in barocker Prachtentfaltung – die 900-jährige Jubiläumsfeier im Jahre 1736 unter Bischof Clemens August von Bayern (1700–1761), der wegen seiner vielen Bischofssitze auch Monsieur des cinq églises, Herr von fünf Kirchen, genannt wurde und im Stile eines Rokokofürsten seine Hofhaltung betrieb. Unter anderem wurde in diesem Jahr ein neuer Festaltar errichtet, der von einem Baldachin überwölbt wurde; den Abschluss der Feierlichkeiten bildete ein spektakuläres Feuerwerk in Schloss Neuhaus, der Residenz des Fürstbischofs, wenn er in Paderborn weilte. 1736 war die Zahl der Festteilnehmer um das Fünffache höher als die der Einwohner Paderborns: Auf 6 000 Einwohner kamen damals 30 000 Teilnehmer.
Aber auch spätere Jubiläen wurden in religiöser und gesellschaftlicher Hinsicht, wenngleich politisch unter ganz unterschiedlichen Vorzeichen, besonders festlich und freudig begangen. Im Jahre 1936 wurde das 1100-jährige Liborijubiläum – gegen den Versuch einer Entchristlichung des Festes – „zum Ausdruck einer gewissen Resistenz der katholischen Bevölkerung gegenüber den neuen Machthabern“ (Barbara Stambolis: Libori. Geschichte des Kirchen- und Volksfestes, Paderborn 1998, S. 7). Zu den Jubiläen von 1736 bis 1936 sowie auch 1986 entstanden Publikationen, die sich mit dem Leben und Wirken des Heiligen sowie seiner Bedeutung für Paderborn beschäftigten.
Liturgische Besonderheiten der Festwoche
In liturgischer Hinsicht bietet das Paderborner Hochfest des Heiligen bzw. die damit verbundene Festwoche Ende Juli einige Besonderheiten. Das Fest selbst wird als Triduum begangen, das mit der Erhebung der sonst unter dem Altar der Krypta ruhenden Reliquien vor der Pontifikalvesper am Samstag beginnt und mit einer Festandacht und der Beisetzung der Reliquien am Dienstag endet.
Am Liborisamstag erklingt bei der Erhebung der Reliquien der so genannte Liboritusch, eine eindrucksvolle Komposition für Blechblasinstrumente mit einer Umrahmung durch Orgelklänge. Dann verehren alle anwesenden Kleriker die Reliquien und ziehen mit dem Schrein in den Hochchor des Domes. Anschließend wird die Pontifikalvesper in lateinischer Sprache gefeiert, wobei sich hier sowohl in den Antiphonen der fünf Psalmen als auch im Hymnus, die sich auf den heiligen Liborius beziehen, ältere Elemente der Paderborner Liturgietradition erhalten haben. Danach folgen Kurzlesung, Hymnus und Magnificat. Die Oration am Fest bittet Gott auf die Fürsprache des Liborius, der auch als Patron gegen Steinleiden verehrt wird, um Einheit der Kirche und um Frieden unter den Völkern. Beide Intentionen greifen wichtige Motive des Liborifestes auf, die besonders im Gefolge des Zweiten Weltkriegs noch deutlicher in den Blick kamen. Immer wieder brachte das Erzbistum Paderborn Pioniere und Wegbereiter der deutsch-französischen Aussöhnung wie etwa Abbé Franz Stock hervor. Während des Krieges wirkte der aus dem Sauerland stammende Seelsorger in den Gefängnissen der Wehrmacht in Paris und begleitete rund 2 000 Menschen zu ihrer Hinrichtung. Dadurch erwarb er sich das Vertrauen der Franzosen und konnte so das „Priesterseminar hinter Stacheldraht“ leiten, in dem 1945 bis 1947 fast 1 000 deutsche Priesteramtskandidaten in Kriegsgefangenschaft – zunächst in Orléans, dann in Chartres – ihr Theologiestudium fortsetzen konnten. Friede und Versöhnung in diesem Sinne sind zentrale (liturgische) Motive des Liborifestes, die ihre historische Basis letztlich bereits im nie aufgegebenen „Liebesbund ewiger Bruderschaft“ von 836 haben.
Am Liborisonntag wird das feierliche Pontifikalamt durch den Apostolischen Segen abgeschlossen und der Reliquienschrein – begleitet von Gesang und Instrumentalmusik – in einer Prozession durch die Stadt getragen.
Den Abschluss des Triduums am Liboridienstag bilden eine eucharistische Andacht sowie die Beisetzung der Reliquien mit einer kleineren Prozession um den Dom. Doch auch am Montag davor und an den anderen Tagen dieser Festwoche finden heute unabhängig voneinander eine Vielzahl von Pontifikalämtern und anderen Gottesdiensten statt, in denen etwa bestimmte Personengruppen des Erzbistums – wie Frauen, Kinder, Jugendliche, ältere Menschen, Familien, das „Landvolk“, Ordensleute oder die Caritas – besonders angesprochen werden. Die Festwoche, die mit einem Pontifikalamt am Sonntag nach dem Liborisonntag abgeschlossen wird, aber besonders das Triduum, haben sich in den letzten Jahrzehnten zu einem Treffpunkt der Weltkirche entwickelt.
Liturgie und Leben
Charakteristisch für das Liborifest sind aber nicht nur Hochliturgien sowie weltkirchlich hochkarätig besetzte religiöse Veranstaltungen, sondern ein in dieser Form einzigartiges Zusammentreffen von Liturgie und Leben, religiöser und weltlicher Feier, wobei beides – auch zeitlich – aufeinander abgestimmt ist. Erst nach der feierlichen Eröffnung des Festes mit der Erhebung der Reliquien sowie der Pontifikalvesper am Liborisamstag im Dom, an der auch viele Menschen des öffentlichen Lebens teilnehmen, beginnen die weltlichen Feiern in der ganzen Stadt, beispielsweise der Pottmarkt am Dom. Gemeinsam genießt man das Leben, isst und trinkt zusammen, kommt miteinander ins Gespräch und besucht etwa Ausstellungen oder andere kulturelle Veranstaltungen. Deshalb ist die in der Öffentlichkeit beworbene Kombination aus Kirche, Kirmes und Kultur so charakteristisch für das Paderborner Liborifest, da sich neben Kommerz und Freizeitvergnügen bis heute auch das religiöse und kulturelle Fundament erhalten hat.