Den Weg der Weisheit gehenIn der Osternacht aus dem Buch Baruch (Bar 3,9-15.32 - 4,4) lesen

Die sechste Lesung der Osternacht (Bar 3,9-15.32 – 4,4)

„Höre, Israel, die Gebote des Lebens;
merkt auf, um Einsicht zu erlangen.
Warum, Israel, warum lebst du im Gebiet der Feinde,
siechst dahin in einem fremden Land,
bist unrein geworden, den Toten gleich,
wurdest zu den Abgeschiedenen gezählt?
Du hast den Quell der Weisheit verlassen.
Wärest du auf Gottes Weg gegangen,
    du wohntest in Frieden für immer.
Nun lerne, wo die Einsicht ist,
wo Kraft und wo Klugheit,
dann erkennst du zugleich,
    wo langes Leben und Lebensglück,
    wo Licht für die Augen und Frieden zu finden sind.

Wer hat je den Ort der Weisheit gefunden?
Wer ist zu ihren Schatzkammern vorgedrungen?
Doch der Allwissende kennt sie;
er hat sie in seiner Einsicht entdeckt.
Er hat ja die Erde für immer gegründet,
er hat sie mit Tieren bevölkert.
Er entsendet das Licht, und es eilt dahin;
er ruft es zurück, und zitternd gehorcht es ihm.
Froh leuchten die Sterne auf ihren Posten.
Ruft er sie,
    so antworten sie: Hier sind wir.
Sie leuchten mit Freude für ihren Schöpfer.

Das ist unser Gott;
    kein anderer gilt neben ihm.
Er hat den Weg der Weisheit ganz erkundet
und hat sie Jakob, seinem Diener, verliehen,
    Israel, seinem Liebling.
Dann erschien sie auf der Erde
    und hielt sich unter den Menschen auf.

Sie ist das Buch der Gebote Gottes,
das Gesetz, das ewig besteht.
Alle, die an ihr festhalten, finden das Leben;
doch alle, die sie verlassen, verfallen dem Tod.
Kehr um, Jakob, ergreif sie!
Geh deinen Weg im Glanz ihres Lichtes!
Überlass deinen Ruhm keinem andern,
dein Vorrecht keinem fremden Volk!
Glücklich sind wir, das Volk Israel;
     denn wir wissen, was Gott gefällt.“

Nachdem in der Osternacht mit der Lesung aus Genesis das kunstvoll-poetische Werk der Schöpfungsgeschichte zu hören war (vgl. diesen Beitrag), und darauf folgend das mächtige Wirken Gottes im Auszug aus Ägypten (vgl. diesen Beitrag), stellt sich die Frage, wie es weitergeht. Eine eher selten zu Gehör gebrachte Lesung ist der Abschnitt aus dem Buch Baruch. Auf den ersten Blick sieht der Text angenehm überschaubar aus und weist mit vielen einzeln notierten Zeilen kurze, leicht lesbare Gedanken, Sentenzen auf – demnach also keine Geschichte, kein Dialog, wenig Spannung. Oder doch?

Gerade weil der Text als kein gesamtes Bild und keine Fortentwicklung von Geschehnissen erscheint, verlangt er dem Lektor/der Lektorin etwas ab. Ihn einfach herunterzulesen wäre ein Aneinanderreihen von Sätzen, mit dem das Verheißungsvolle, das der Weg zur Weisheit bereithält, verborgen bliebe. Der Lektor muss auch hier sprecherisches Können einsetzen, indem er Tempo und Lautstärke variiert und die Stimme durch unterschiedliche Tonhöhen beweglich hält. Darüber hinaus macht die Haltung des Mitteilens das Vorlesen zu einem Akt der Kommunikation und einem ästhetisch ansprechenden Ereignis. Sonst ist das Vorlesen ein nur akustisches Umsetzen der geschriebenen Wörter in Schall.

Gleich zu Beginn werden wir mit einem Aufruf konfrontiert: Höre, Israel, die Gebote des Lebens. Auch der Zweck wird sofort genannt: um Einsicht zu erlangen. Noch wissen wir nicht, ob eine Anweisung, gar eine Zurechtweisung, oder eine wohlmeinende Forderung folgen wird. Und so ist bereits der erste Vers ein Aufruf, der die Identifikation der Hörenden mit dem Volk Israel einfordert. Es wird klar: Schlummern können die Hörenden auch bei dieser Lesung nicht. Es folgt eine Warum-Frage, die, wie alle Fragen nach dem „Warum“, nach einer Begründung oder Erklärung verlangt, und den Vorwurf sogleich mit im Gepäck hat (V. 10-13). Für den Lektor eine Gelegenheit, den Hörer/die Hörerin mitzunehmen.

Mit Brillanz und Farbigkeit vorlesen

Die Farbigkeit, die wir als Vorlesende/r hier in die Sprache bringen können, entsteht durch Genauigkeit und Schärfe. Die Brillanz klar ausgesprochener Konsonanten bringt nicht nur eine gute Verständlichkeit mit sich, sondern auch eine Klarheit in der Aussage und ein Vermitteln der Botschaft. Die Anforderung an einen Sprecher sollte hier nicht unterschätzt werden: Sprache muss immer verstehbar und verständlich sein, sonst kommt die Botschaft nicht an.

Zugleich empfiehlt es sich, die Verse 10 bis 12 Zeile für Zeile zu lesen, damit jede Aussage für sich einprägsam wird, dennoch nach vorne drängend zu lesen und einen Bogen über jede Zeile zu spannen, damit es nicht träge wird und der Vorwurf sich auch mitteilt. Hier sollte es die Intention des Lektors sein, die Hörenden mitzunehmen, die den gelesenen Text mit Leben füllt. Zuerst die herausfordernde Frage nach dem Warum mit den üblen Konsequenzen, dann der Vorwurf. Der Text liefert die Erklärung für den Zustand Israels umgehend in V. 13: Wärest du auf Gottes Weg gegangen … Wir als Hörende müssen nicht weiter nach einer Begründung suchen.

Bereits jetzt scheint auf, wo Israel hingeführt wird und wo wir hingeführt werden. Nicht das Vergangene, Düstere steht im Fokus, sondern die Zukunft: Frieden für immer. In V. 14 wird der zu beschreitende Weg noch genauer aufgezeigt, und wir merken, dass der andere es gut mit uns meint. Sprechen Sie diesen Vers wiederum sehr deutlich artikuliert, denken Sie sich ein Ausrufezeichen nach jeder Aussage. Legen Sie aber Wärme und Freundlichkeit und ebenso Neugier in Ihre Stimme: Sprechen Sie mit großen Augen, um das Bild der Verheißung von Licht und Frieden zu zeigen und auch dem Hörer die Augen dafür zu öffnen, das heißt, sprechen Sie hier mit größerer stimmlicher Bandbreite. Die Kunstfertigkeit bedeutet hier, dass ein Sprecher den Spielraum seines Ausdrucksvermögens hinsichtlich Dynamik, Intensität und Modulation auch nutzt.

Mit V. 15 verlässt der Text die direkte Anrede und begibt sich offenbar an einen Allgemeinplatz (Wer hat je …?). Mit den beiden rhetorischen Fragen nimmt er uns jedoch wieder gefangen und fordert Antworten heraus: Hat die Weisheit einen Ort? Lässt sie sich in Schatzkammern finden? Die Vorstellung hat etwas sehr Poetisches und Malerisches. Bringen Sie dies auch in Ihrer Stimme zum Ausdruck: durch eine Dynamik von leise nach lauter, von etwas tieferer Stimme zur Sinnspitze bei Weisheit bzw. Schatzkammern. Schätze gibt es in Märchen und Abenteuergeschichten, und auf solchen Orten liegt immer etwas Magisches und Geheimnisvolles, das uns erwartungsvoll und gespannt danach suchen und darauf blicken lässt. Die ungewöhnliche Bezeichnung „der Allwissende“ passt zu diesen Bildern. Behalten Sie beim Lesen bis zu V. 35 diese dynamische Bandbreite des An- und Abschwellens bei: jede Zeile für sich als Bogen lesen, aber nie Wort für Wort, sonst wird es statisch. In jedem dieser Gedanken muss die gerade gemachte Entdeckung begeistern, etwa Er hat sie mit Tieren bevölkert (unbedingt mit dem Akzent auf Tieren), und die Erinnerung an den Schaffensprozess der einzelnen Elemente, der in der Schöpfungsgeschichte zu hören war, leuchtet auf. Was macht einen solchen Bogen beim Lesen aus? Er gibt einem Gedanken gewissermaßen Schwung. Wie in einer musikalischen Phrase kommt Atem hinein. Ein Impuls wird angestoßen, eine Welle zum Hörer hin, die wieder ausläuft. Er entsendet das Licht, und es eilt dahin. Pause. Atmen. Er ruft es zurück, und zitternd gehorcht es ihm. So kann jedes Bild wahrgenommen werden.

Im Dialog mit den Hörenden

In der nächsten Passage (V. 36-38) stehen Aussagen von großer Klarheit. Einfache Feststellungen, die wiederum durch präzises Sprechen präsentiert werden sollten. Die Intention ist: Wenn wir dies alles wahrgenommen haben, haben wir die Weisheit auf der Erde erkannt.

Die abschließenden Verse 1 bis 4 können sehr glanzvoll, mit Helligkeit in der Stimme gelesen werden. Die Genauigkeit der Aussprache muss beibehalten werden, jede Zeile als einen Bogen gespannt mit der Dynamik des An- und Abschwellens und dem Ziel im Blick.

Die vielleicht größte Herausforderung an einen Sprecher liegt im Mitteilungswillen. Vorlesen ist als kommunikativer Akt immer an ein Gegenüber gerichtet. Mehr noch als die Schöpfungsgeschichte und der Auszug aus Ägypten richtet sich der Text an den hörenden Adressaten. Mehr noch steht hier der Hörer als Gegenüber im Fokus. Lesen Sie für Ihre Hörer, und sehen Sie Ihren Lesevortrag als einen Dialog mit ihnen, als einen Kommunikationsprozess, bei dem Resonanz entsteht. Wenn dies im Bewusstsein ist, wenn Sie auf den Zustand des Volkes Israel hinweisen, mit ihm den Weg aus dem Dunkel zum Licht beschreiten, indem Sie die Bilder zeigen, bekommt der Vortrag Lebendigkeit, Präsenz und Würde, und die Botschaft der Osternacht vom Dunkel ins Licht setzt sich fort. Der Text ist nicht eine Geschichte, ein großes Bild, sondern eine Serie, die einen Zusammenhang hat und in eine Erkenntnis mündet: Die Quelle als Bild für das unaufhörlich Sprudelnde – oder noch poetischer: der Quell der Weisheit – ist immer da, wenn wir lernen, sie zu erkennen und ihr zugewandt bleiben.

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