Seit dem 1. Adventssonntag des Jahres 2018 werden in den Sonntagsgottesdiensten des deutschen Sprachgebietes die biblischen Lesungen aus dem neuen Lektionar verkündet. In seinem Schriftbild fällt eine Neuerung auf: Am Ende der 1. und 2. Lesung steht in derselben Formatierung wie der biblische Text selbst: „Wort des lebendigen Gottes.“ Die Antwort der Gemeinde, „Dank sei Gott“, wird nur bei der Ersterwähnung am 1. Adventssonntag abgedruckt. An dieser Stelle ist der Ruf auch mit Noten versehen. Und hier ist auch eine wichtige Rubrik aus dem Dokument „Die Feier der Gemeindemesse“ abgedruckt: „Wo nach der Lesung ein Ruf der Gemeinde üblich ist, lautet dieser: …“ Was hat es mit dieser Akklamation auf sich, die im bisherigen Lektionar nur am 1. Advent aufgeführt wurde, nun aber nach jeder Lesung erscheint?
Gründe für die Neuerung
Eine vermutete Begründung für diese Veränderung wurde im Umfeld der Vorstellung des neuen Lektionars mündlich überliefert: Das Abdrucken des Rufes soll die Lektoren und die Gemeinden vor kreativen Eigenlösungen bewahren. Denn in der Tat sind an dieser Stelle verschiedene Wortschöpfungen zu hören. Einige Lektoren sagen: „Worte des lebendigen Gottes.“ Das legt die gefährliche Folgerung nahe, dass Gott wortwörtlich der Autor genau dieser gesprochenen Worte ist. Andere sprechen die banale Selbstverständlichkeit an, die sich auch aus dem Aufhören des Lesens ergeben würde: „So weit die Worte der Lesung.“ Als (erstmaliger) Hörer manch anderer Kreation ist man in der Gefahr, über die Akklamation und seine Bedeutung nachzudenken, das vorher verkündete Wort selbst aber leicht zu vergessen. Da kann der vorgetragene Ruf theologisch noch so wertvoll sein, er kann das Nachklingen der Lesung doch erschweren.
Manch ein Lektor und erst recht manche Lektorin bringt den Ruf nach einzelnen Texten, die ihnen unverständlich erscheinen, nicht über die Lippen. Für die Unterordnung der Frau unter den Mann (Eph 5,22–24) soll Gott nicht als Auftraggeber verantwortlich gemacht werden. Das ist nachvollziehbar, wenn die Aussagen nicht eingeordnet, manchmal auch nicht eingeleitet, vor allem aber nicht ausgelegt werden. Auf jeden Fall signalisiert der Ruf am Abschluss, was schon am Anfang gesagt wurde. Das Gelesene ist kein spiritueller Text aus der Feder dieses oder jenes Autors. Gott spricht in den Worten eines biblischen Autors zu uns, in der Übersetzung der bisherigen oder der revidierten Einheitsübersetzung, in der Versauswahl der Leseordnung, mit den leiblichen Ausdrucksmöglichkeiten einer Lektorin oder eines Lektors, ja sogar mit den technischen Möglichkeiten in einer Kirche. Aber trotz all der menschlichen Vermittlungsstufen ist es das Wort Gottes, das verkündet wird.
Im Lateinischen steht am Ende der Lesungen der Ruf „Verbum Domini“ und die Antwort „Deo gratias“. Wahrscheinlich wurde die deutsche Formulierung gewählt, weil der Ruf „Wort Gottes“ sehr knapp wäre. Das zusätzlich gewählte Attribut „lebendig“ charakterisiert Gott selbst, darf in diesem Zusammenhang aber auch auf sein Wort angewandt werden, das „lebendig und wirksam“ ist (vgl. Hebr 4,12).
Die Akklamation ist Teil eines wiedererkennbaren Ritus und kein freies Wort. Niemand muss lauern, welche Idee dieser Lektor in dieser Kirche heute haben wird. Und die Frage, ob das Gelesene heute auch das Wort Gottes ist, muss der Lektor nicht beantworten. Das hat die Kirche bei der Bildung des Bibelkanons in den ersten Jahrhunderten entschieden. Zum Verständnis, was das im Einzelnen bedeutet, müssen die Homilie und die Erwachsenenbildung ihren Beitrag leisten.
Zur Qualifikation des Wortes Gottes
Was meinen wir, wenn wir vom Wort Gottes sprechen? Das Wort Gottes der biblischen Tradition sind nicht die einzelnen Worte. Die Buchstaben sind nicht vom Himmel gefallen und nicht von einem göttlichen Autor in Stein gemeißelt. Deshalb ist ja auch eine Textkritik möglich, die nach verschiedenen Überlieferungsschichten, Quellen und Autoren fragt. Von Gott inspirierte Menschen haben das Wort Gottes und ihre Erfahrungen mit dem lebendigen Gott mit ihren sprachlichen, kulturellen und persönlichen Möglichkeiten weitererzählt und aufgeschrieben. Der Inhalt als ganzer ist inspiriert. Die einzelnen, so verschiedenen Teile der Bibel sind nur aus ihrer Zeit und ihrem Umfeld zu verstehen. Und doch kommt darin Gott selbst zum Sprechen. Das Wort Gottes drückt sich im Menschenwort aus. Ein reines Gotteswort wäre für uns unverständlich. Nur wenn Gott in unserer Sprache spricht, wird Kommunikation möglich. Gott lässt sich auf unseren Verständnishorizont ein. Das Wort inkarniert sich, so wie der Logos an einem konkreten Ort zu einer bestimmten Zeit ein konkreter Mensch wurde (vgl. Joh 1,1–18). Das Wort offenbart sich nicht nebulös unverständlich in einer Sakralsprache, sondern auf Augen- und Ohrenhöhe der einfachen Menschen. Davon erzählen die Evangelien auf die ihnen eigene Weise.
Wer sich mit biblischen Texten befasst, kann Worte und Geschichten finden, die ihn ansprechen oder abstoßen, manchmal auch kalt lassen oder unverständlich sind. Unterschiedliches und Gegensätzliches steht in derselben Bibel, einer ganzen Bibliothek von Büchern mit ganz verschiedenen Genres. In der Regel ist es für die Auslegung unerlässlich, den Kontext einer Perikope zu kennen. Dadurch kann sich manches, was als Gegensatz erscheint, klären lassen. Die Vielstimmigkeit des Wortes Gottes spricht nicht gegen seine Wahrheit. Wenn bei einer polizeilichen Vernehmung mehrere Zeugen wortwörtlich das Gleiche aussagen, ist ihr Zeugnis unglaubwürdig, weil sie sich abgesprochen haben. Wenn aber jeder einzelne seine Beobachtung und Erfahrung aus seiner Perspektive einbringt, spricht es für die Echtheit des Erlebten. Die Mehrstimmigkeit biblischer Texte kann als Reichtum und Bestätigung empfunden werden.
Es ist erstaunlich, dass seit Jahrtausenden in den Gottesdiensten von Juden und Christen die alten biblischen Texte gelesen werden und sie doch immer wieder auch Neues zu sagen haben. Schon das spricht für diese Texte. Sie werden in neue Kontexte hineingesprochen und können dadurch an Aktualität gewinnen.
Gottes Wort in der Liturgie oder die Liturgie des Wortes
Das lebendige Wort Gottes ist weniger ein geschriebener oder gedruckter Buchstabe oder ein Buch. Es will sich in der jeweiligen Zeit durch glaubende Menschen ereignen. Die „Grundordnung des Römischen Messbuchs“ (als Vorabpublikation zu einem neuen deutschen Messbuch herausgegeben) bietet in manchen Punkten interessante Fortentwicklungen. Aus dem „Wortgottesdienst“ ist darin die „Liturgie des Wortes“ geworden. Verkündigung des Wortes Gottes ist Liturgie, ereignet sich. Gott wirkt darin an uns im Heute. Das Wort Gottes wird nicht nur verlesen, sondern gefeiert. Und in der Messfeier ist sie nicht Vorprogramm zum Eigentlichen, sondern ein Geschehen mit einer ganz eigenen großen Würde, der erste Hauptteil der Feier. Die Kirche lebt aus dem Wort Gottes und aus dem Sakrament. Wird eine der beiden Liturgien vernachlässigt, dann bekommt die Kirche eine Schlagseite. Man kann in einem weiten Sinn des Sakramentenbegriffs davon sprechen, dass das Wort Gottes ein Sakrament ist, so wie auch die Kirche oder Jesus Christus als Sakrament bezeichnet werden. „Gegenwärtig ist er (Christus) in seinem Wort, da er ja selbst spricht, während die Heiligen Schriften in der Kirche gelesen werden“ (SC 7). Durch den Mund von Lektoren, Diakonen und Priestern baut Gott sein Volk zu seiner Kirche auf.
Die Schweizer Benediktinerin Silja Walter (1919–2011) hat in ihrem Leben und literarischen Werk darum gerungen, wie sich Gottes Heilshandeln heute ereignen kann. Ein Gedicht trägt den Titel „Perikope“. Darin heißt es: „Jedenfalls geht seine Geschichte / und seine Geschichten – / nie gehen sie ein / in die Weltgeschichte, / immer sind sie brennendes Jetzt und Da / hier bei uns, / erst recht in dem Fest, / das uns hier vereint“ (S. Walter, GA 10, Freiburg/ Schweiz 2005, S. 281 f.). Immer ist sein Wort brennendes Jetzt. Hier bei uns. Besser ist kaum zu umschreiben, was in der Liturgie des Wortes geschehen kann.
Zur Liturgie des Wortes gehört auch die Auslegung in der Homilie oder Predigt. Dieser hohe Anspruch wurde vom Konzil gestellt: „Die Homilie (…) wird als Teil der Liturgie selbst sehr empfohlen“ (SC 52). Von der Definition her soll auch durch die Auslegung des Wortes Gottes sein Heil im Heute erfahrbar werden. Sie soll aus der Quelle der Heiligen Schrift und der Liturgie schöpfen, „da sie ja gleichsam die Verkündigung der Wundertaten Gottes in der Heilsgeschichte bzw. im Geheimnis Christi ist, das in uns stets gegenwärtig ist und wirkt, insbesondere bei der liturgischen Feier“ (SC 35,2). Das ist Zusage und Anspruch in einem. Es geht nicht nur darum, was einst ein Verfasser mit einem Text gemeint hat. Das ist eine Frage, die vor der Verkündigung geklärt werden muss. Im neuen Zusammenhang eines Textes im Gottesdienst und mit den Fragen der Menschen legt der Text sich selbst im Heute aus, auch mit der Hilfe von Menschen. Gott handelt dabei. Die Predigt ist nicht Katechese und nicht nur eine Information. In ihr soll Gott zum Zuge kommen.
Gründe gegen eine Akklamation
Es gibt Gemeinden und Gemeinschaften, die den Spielraum nutzen und auf die Akklamation nach den Lesungen verzichten. Der Ruf wird „je nach örtlichen Gewohnheiten“ (PEML 125) gesprochen oder gesungen. Durch den Abdruck unter jeder Lesung im neuen Lektionar könnten diese Gemeinden unter Druck geraten. Doch die Ersterwähnung des Rufes im Lektionar am 1. Adventssonntag macht deutlich, dass der Ruf weiter fakultativ bleibt. Das wäre deutlicher gewesen, wenn der Ruf im Schriftbild anders als die Lesung gestaltet wäre. So ist zudem die Gefahr groß, dass er ohne Pause wie ein Teil der Lesung gelesen wird und das andere Genre nicht deutlich wird. Wenn aber ein Ruf gesprochen wird, dann der abgedruckte.
Was spricht für den Verzicht auf eine Akklamation und ein offenes Ende der Lesung? Der Ruf kann ein Nachklingen der Lesung erschweren. Die Antwort könnte wie ein fertiger Abschluss wirken, wo doch eine Wirkungsgeschichte beginnen soll. Alternativ könnte eine kurze Stille folgen und dann der Antwortpsalm mit seinem Kehrvers gesungen werden, der die eigentliche Antwort der Gemeinde in meditativer Weise darstellt. In einem Lektorenkreis kam man nach den entsprechenden Überlegungen dazu, den Ruf ins Ermessen der einzelnen Lektoren zu stellen. Das war ein Experiment, das nicht beispielgebend sein muss. Aber nach einer Übergangszeit war es für alle stimmiger, wenn die Akklamation nicht gelesen wurde. Das war keine Entscheidung gegen die Bibel als „Wort des lebendigen Gottes“, sondern eine Entscheidung für ein ruhiges Weiterklingen der Lesung und gegen einen zu schnellen Abschluss. Im Übrigen ist auch der folgende Psalm Teil der biblischen Überlieferung.