Nach Wochen voller Livestream-
Gottesdienste und Messen zu
Hause am Bildschirm haben Sie
gemerkt, dass es anders ist, ob man „live“
dabei ist oder ob man im Kirchenraum anwesend
ist. Und auch hier ist es ein Unterschied,
ob man weit auseinander und mit
Maske in der Bank sitzt oder ob man auf Abstand
und Schutz nicht zu achten braucht. In
diesem Fall entsteht Nähe und Verbundenheit,
wir nehmen einander wahr und fühlen
uns beteiligt. Es fühlt sich lebendiger an.
Wenn Sie Lektorin oder Lektor sind, sind
Sie wahrscheinlich genau wie ich froh darüber,
endlich wieder das Lektionar auf den
Ambo legen zu dürfen und in der Messe daraus
vorzulesen. Und sicherlich sind Sie auch
froh darüber, dass Sie wieder in Gesichter sehen
und zu Menschen sprechen, die real vor
Ihnen sitzen. Als Lektor/in liegt Ihnen die Verkündigung
am Herzen. Damit die Botschaft
der Lesung klar transportiert wird und damit
die hörende Gemeinde den Schriftlesungen
mit der gleichen Wertschätzung begegnet
wie Sie selbst als Lektor oder Lektorin, brauchen
Sie eine optimale Präsenz.
Was Präsenz bedeutet
Ich weiß noch, wie ich in meiner Jugend
zum ersten Mal das Wort „live“ gehört habe
und sehr beeindruckt war, jetzt im Fernsehen
das zu sehen, was in diesem Moment
an einem anderen Ort geschah. Manchmal
beneidete ich die Menschen, denen es vergönnt
war, dabei sein zu können. Ich stellte
mir vor, wie unmittelbar die Menschen an
dem Geschehen teilhaben konnten. Dort
anwesend zu sein, musste alles noch greifbarer
machen. Man erlebte alles „in echt“,
wie Kinder gerne sagen. Es ist wie bei einer
persönlichen Begegnung: Wir nehmen
mehr voneinander wahr, Vertrautheit entsteht,
Unsicherheit schwindet, wenn wir
wirklich gegenwärtig und mit allen Sinnen
dabei sind. Immer dann sind wir präsent.
Präsent zu sein, geht weit über das einfache
Anwesendsein hinaus. Fragen Sie
sich einmal, was Sie erwarten, wenn Sie
selbst Hörende/r sind. Sie sind zum Gottesdienst
erschienen, weil Sie teilhaben wollen.
Weil Sie eine Botschaft hören wollen,
die auch Ihnen gilt, vorgetragen von einer
Person, der nicht gleichgültig ist, was sie
liest. Und fragen Sie sich, was Sie als Lektor
erwarten: Vermutlich zumindest ruhige,
am besten aufmerksame und interessierte
Hörerinnen und Hörer, die neugierig und bereit sind, das Wort aufzunehmen. Was
verlangt es demnach von Ihnen als Lektor,
als Lektorin, präsent zu sein? Sich bewusst
auf den Lesevortrag einzustellen fordert
Konzentration und die Bereitschaft zur Kommunikation.
Darum ist es wichtig, dass Sie
-
die Sinne schärfen: für sich selbst, die
Menschen, den Raum;
- sich verankern: bei sich bleiben;
- sich einlassen: auf den Text und die
Messfeier;
- in Resonanz gehen: mit den anwesenden
Gläubigen.
Bewusst den Fokus setzen
Mit folgenden vier Schritten lenken Sie
Ihren Fokus bewusst nach innen und nach
außen. Mit dem Blick für das Hier und Jetzt
geben Sie der hörenden Gemeinde die Botschaft
der Schriftlesung mit auf den Weg.
1. Den Raum wahrnehmen
Nehmen Sie, wenn Sie den Raum betreten,
sehr bewusst die Größe des Raumes wahr.
Fragen Sie sich: Ist der Raum objektiv groß
oder eher klein? Wie wirkt der Raum auf
mich selbst? Könnte ich ihn mit meiner
Stimme füllen? Hallt es, wenn man spricht?
Welchen Weg muss ich von meinem Platz
zum Ambo zurücklegen? Was fällt mir ins
Auge, wenn ich vom Ambo aus aufblicke?
Machen Sie sich bewusst, dass Sie für eine
bestimmte Zeit im Fokus stehen: durch Ihr
Auftreten, Ihre Präsenz, Ihre Stimme.
2. Sich selbst wahrnehmen
Gehen Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit zu
sich selbst. Lenken Sie Ihre Sinne bewusst
zu Ihrem Körper. Setzen Sie sich aufrecht
hin und verfolgen Sie Ihre Atemzüge, ruhig
und gleichmäßig. Die Atmung bildet
das Zentrum. Legen Sie eine Hand auf den
Bauch, um dies gut zu spüren und gut bei
sich zu bleiben. Lassen Sie den Unterkiefer
locker, machen Sie leichte Kaubewegungen
und bewegen Sie die Zunge im Mund.
Das ruhige Atmen aus der Mitte und lockere
Sprechwerkzeuge lassen Ihre Stimme
klangvoll und tragfähig erklingen.
3. Die Gemeinde wahrnehmen
Richten Sie nun die Aufmerksamkeit nach
außen und stellen Sie eine Beziehung zu
den Hörenden her. Machen Sie sich bewusst,
dass Sie zu den Menschen sprechen,
die wie Sie im Raum anwesend sind, manche
näher, manche weiter weg. Sie sind
wie Gesprächspartner, denen Sie etwas
Wichtiges und Interessantes mitzuteilen
haben. Blicken Sie zu Beginn der Lesung
in die Gemeinde und halten Sie den Blick
über die einleitenden Worte, denn dann ist
er bewusst gesetzt und „spricht an“. Damit
bauen Sie eine Verbindung auf und schaffen
Verbindlichkeit.
4. Den Text wahrnehmen
Machen Sie sich noch einmal die Botschaft
Ihres Textes bewusst. Was waren
Ihre Gedanken, als Sie den Text das erste
Mal gelesen haben? Welche Stimmung
hat sich bei Ihnen eingestellt? Ist es eine
Geschichte, die Sie berührt? Ein Bericht,
der nüchtern und sachlich wie ein Nachrichtentext
daherkommt? Gibt es Ratschläge,
Anweisungen? Was nehmen Sie für
sich mit? Was möchten Sie mitteilen, was
finden Sie hörenswert? Machen Sie sich
klar, was Sie gerne selbst daraus empfehlen
würden, und verankern Sie damit die
Botschaft.
Weshalb Sie unverzichtbar sind
Wahrscheinlich war Ihnen bisher kaum
bewusst, welchen Anteil an der Verkündigung
Sie selbst durch Ihren Auftritt
haben. Nur wenn Sie als Lektor das Ohr
der Menschen öffnen, bereiten Sie den
Boden für die Botschaft des Evangeliums.
Die Schriftlesungen sind nicht verzichtbar
oder entbehrlich, und Sie als Lektor
und Lektorin sind es auch nicht. Nein,
um die Botschaft hören und verstehen zu
können, brauchen wir Vorlesende, die sie
gut mitteilen können sowie präsent sind
und sich einlassen. Man könnte auch
sagen: Sie sind systemrelevant für die
Kirche.