In den meisten europäischen Städten kommt man an den Kirchen
nicht vorbei. Sie sind wichtige Zeugnisse der Geschichte
und der Kunst und stehen städtebaulich an zentralen Orten.
Sie erzählen vom Glauben nicht nur vergangener Jahrhunderte,
sondern auch in der Gegenwart. Hier lebt die Kirche und wird der
Glaube gefeiert. So haben Kirchen in den Innenstädten ein großes
Potential. City-Kirchen-Projekte nutzen diese Möglichkeiten, indem
sie Kirchenräume im Stadtzentrum einer neuen und offenen Gestaltung
zuführen. Davon soll im Folgenden jedoch nicht die Rede sein,
sondern von jenen Kathedralen und Stadtkirchen, die als Bischofsund
Pfarrkirchen besonders herausgefordert sind, Gottesdienst und
Liturgie und die Anliegen anderer Kirchenbesucher unter einen Hut
zu bringen. Dieser Aufgabe stellen wir uns z. B. auch in der Kathedrale
in St. Gallen und loten die Chancen aus, die darin liegen.
Die Kirche zeigen
In den letzten Jahren hat der Stiftsbezirk St. Gallen als UNESCO-Weltkulturerbe
enorm an Attraktivität gewonnen. Neue Ausstellungsräume
wurden eröffnet und erschließen auf frische Art und
Weise die Kultur und Geschichte der Fürstabtei St. Gallen. Die jährlichen
Besucherzahlen nähern sich der 200 000er-Marke. Viele, die
den Stiftsbezirk besuchen, kommen auch in die Kathedrale.
Diese Besucherfrequenz und ein solches Interesse bringen viele
pastorale Chancen mit sich. Über den Kirchenraum und die Kirchenraumpädagogik
erreichen wir zahlreiche Menschen, die sich von
anderen pastoralen Angeboten fernhalten und kirchlich distanziert
haben. In St. Gallen sind wir als Kirche allerdings nicht die einzigen,
die dieses Feld bearbeiten. Viele Führungen werden von „St. Gallen-
Bodensee-Tourismus“ und von der Stiftsbibliothek angeboten. Wir
ergänzen die Palette mit thematischen Führungen, die besonders
die geistliche Dimension des Ortes erschließen. Im Aufbau ist zudem
eine Gruppe von „Living Stones“ (www.pietre-vive.org): Junge
Menschen zeigen als Glaubenszeuginnen und -zeugen anderen die
Kirche als Zeugnis des Glaubens. In einer zunehmenden religiösen
Sprachlosigkeit ist dieses Projekt ein schönes Labor, den Glauben
heute zur Sprache zu bringen. Seit einigen Jahren ist die Kathedrale
auch Teil der Museumsnacht in St. Gallen. Während der Dauer von
vier Stunden führen von uns geschulte Volunteers Besucher durch
die Kirche und machen sie mit allen Sinnen erfahrbar, unter anderem
mit den Gesängen der Männer-Choralschola in der Krypta des
Heiligen Gallus. 2019 nahmen über 600 Personen daran teil – viel
mehr als an allen anderen Veranstaltungen im Bereich religiöser
Erwachsenenbildung! Wir sind überzeugt, dass es sich lohnt, als Kathedrale
bei der Museumsnacht dabei zu sein, auch wenn wir kein
Museum sind – und vor allem keines werden wollen.
Dieses Anliegen konnten wir auch bei der Lancierung eines
Audioguides einbringen. Einen solchen stellt die Stiftsbibliothek
für Individualbesucher in verschiedenen Sprachen zur Verfügung.
Zum Glück konnte das Seelsorgeteam „Dom“ bei der Auswahl der
Orte und bei der Zusammenstellung der Texte mithelfen. So kommen
jetzt nicht nur geschichtliche und kunsthistorische Aspekte
zur Sprache, sondern auch das, was wir hier feiern.
Dank der historischen Bedeutung des Ortes mangelt es nicht an
Literatur über die Kathedrale. Wir wollten dieses Angebot ergänzen
mit einem geistlichen Kirchenführer, der dank starker Bilder
und leichter Sprache möglichst viele Menschen ansprechen kann.
Entstanden ist ein kunstvolles Buch mit dem Titel: „Schön ist sie –
die Kathedrale St. Gallen“. Weitere Produkte sind aus der Zusammenarbeit
mit dem Shop der Stiftsbibliothek hervorgegangen, zum
Beispiel ein Schirm, der innen den St. Galler Allerheiligen-Himmel,
das Kuppelgemälde von Josef Wannenmacher, zeigt. Alle diese Angebote
haben vor allem ein Ziel: die Kirche zu zeigen und unter die
Leute zu bringen.
Frei-Raum für Gott
Kirchen sind Frei-Räume für Gott. Sie „sichern Gott einen Ort“ (vgl.
Madeleine Delbrêl: Gott einen Ort sichern. Texte – Gedichte – Gebete,
hg. von Annette Schleinzer, Kevelaer 2018) und entziehen sich
einer totalen Ökonomisierung. Aus der Hektik und dem Konsum,
die unsere Städte prägen, kommen die Menschen hier in einen
anderen Raum. Insbesondere Zentrumskirchen bieten so Raum
für die „anonyme Stadtgemeinde“. Die Kirche wird zu einem Begegnungspunkt
von kirchennahen und kirchenfernen Menschen,
von institutionalisierter und individualisierter Religiosität.
Um besser zu verstehen, was die Menschen
dieser „anonymen Stadtgemeinde“ in
die Kathedrale führt, was sie hier schätzen
und was ihnen fehlt, gab das „DomTeam“
2014 beim Schweizerischen Pastoralsoziologischen
Institut (SPI) eine empirische
Untersuchung in Auftrag. Dadurch ist deutlich
geworden, dass diese Besuchergruppe
besonders die Atmosphäre und die Stille
des Raumes schätzt. Hier können sie ihre
persönliche Religiosität in einem geschützten
Rahmen pflegen. Lange Öffnungszeiten
sind insbesondere für die Berufstätigen
unter ihnen wichtig. Darüber hinaus vermissen
die meisten nichts.
Und doch zeigen die Erfahrungen der
letzten Jahre, was der „anonymen Stadtgemeinde“
über den Frei-Raum hinaus wichtig
ist. An erster Stelle steht die Möglichkeit,
eine Kerze anzuzünden. In der Kathedrale
St. Gallen sind es im Jahr über 160 000 Opferkerzen.
Für die Domsakristane ist das
zuweilen eine logistische Herausforderung.
Wichtig für uns ist dabei, dass wir aus den
Opferkerzen kein Geschäft machen, sondern
die Einnahmen ausnahmslos sozialen
Projekten zuführen. Neben dem Opferkerzenständer
gibt es eine „Prayer-Box“. Es liegen
Zettel bereit, auf die man eine Sorge,
eine Bitte oder auch einen Dank notieren
kann. Der Zettel wird dann in die Box gelegt.
Anders als beim Fürbittbuch können
so die anderen das Geschriebene nicht lesen.
Außerdem wird das Ganze nicht mehr
mit einem Gästebuch verwechselt, was früher
beim Fürbittbuch öfter vorkam. Gelegentlich
tragen wir die „Prayer-Box“ in den
Sonntagsgottesdiensten vor den Altar und
nehmen die Anliegen mit in unser gemeinsames
Gebet. Neben dem Kerzenanzünden
ist besonders für Gläubige aus anderen
Kulturen wichtig, dass sie Heiligenstatuen
berühren können. Ein starker Anziehungspunkt
ist in der Kathedrale eine Pietà, die
gut zugänglich, aber doch diskret hinter
einer Säule im Kirchenschiff platziert ist.
An Bahnhöfen und anderen Passantenlagen
gibt es „Coffee to go“. Viele Rituale, die
Menschen der „anonymen Stadtgemeinde“
pflegen, sind eine Art „Liturgie to go“. Die
entsprechende Infrastruktur bieten unsere
Kirchen an: Weihwasser, Opferkerzen, Fürbittbuch
oder „Prayer-Box“, heilige Bilder
und Statuen … Bräuchte es darüber hinaus
noch mehr? Zum Beispiel ein Aschenkreuz
„to go“ am Aschermittwoch – ohne gemeinsame
Liturgie und ohne feste Gottesdienstzeiten,
sondern individuell und persönlich
„beim Vorbeigehen“? Oder ein persönlicher
Pilgersegen für jene, die auf dem Jakobsweg
durch St. Gallen kommen? Darüber sind
wir im Gespräch, ohne dass wir schon entsprechende
Angebote geschaffen hätten.
Die Chancen einer Zentrumskirche
auszuloten und zu gestalten, ist eine große
Freude. Dennoch gibt es auch einige Herausforderungen,
die mit der zentralen Lage
und der (kunst-)historischen Bedeutung des
Ortes zusammenhängen. Die Bedürfnisse
der verschiedenen Benutzergruppen gehen
nicht reibungslos aneinander vorbei. Das
Miteinander und Nebeneinander muss geordnet
werden. Klar ist bis jetzt, dass die
Gottesdienste erste Priorität haben: „Dem
Gottesdienst soll nichts vorgezogen werden“
(Benediktsregel 43,3). Die anderen
Nutzungen müssen sich unterordnen.
Das Heilige zu feiern, braucht einen geschützten
Raum. Im Tempel von Jerusalem
führte deshalb der Weg zum Allerheiligsten
durch verschiedene Vorhöfe. So großzügige
„Schutzzonen“ um eine Kirche gibt es in den
Stadtzentren heute kaum noch. Im Gegenteil:
Unter dem Stichwort „Belebung der Innenstadt“
nehmen die Events und die damit
verbundenen Immissionen noch zu. Also
nicht nur, wenn es um die Nutzung des Kirchenraumes
innen geht, sondern auch im
Umfeld außen stoßen verschiedene Interessen
aufeinander. Zum Glück sind in St. Gallen
die Wege zwischen den verschiedenen
Institutionen kurz, sodass man im direkten
Gespräch möglichst gute Lösungen findet.
Zentrumskirchen bieten viele Chancen:
Sie zeigen Kirche; sie sind ein Frei-Raum für
Gott. Und das mittendrin. Dass dazu auch
Reibungsflächen gehören, zeigt nur, wie
wichtig sie sind. Ergreifen wir die Chancen!