Auf halbem Weg stehen geblieben

Die Liturgiekonstitution ist zweifellos ein Meilenstein des Zweiten Vatikanums. Aus heutiger Sicht birgt sie jedoch entscheidende Defizite.

Bekanntlich stieß das Zweite Vatikanische Konzil 1963 mit der Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium (SC) eine umfassende Liturgiereform an. In der Konstitution selbst vollzogen die Konzilsväter einen Paradigmenwechsel in der Frage, wer Träger der Liturgie ist: Waren es vor dem Konzil ausschließlich geweihte Männer, Kleriker, so ist es nun die gesamte feiernde Versammlung.

Liturgie stellt eine Begegnung zwischen Gott und der feiernden Gemeinde dar: Die Liturgiewissenschaft beschreibt dies mit der katabatischen (absteigenden) Zuwendung Gottes zum Menschen und der anabatischen (aufsteigenden) Antwort des Menschen. Dieses liturgische Begegnungsgeschehen kann mit drei Ebenen beschrieben werden: der Handlung, dem Erleben und der Entscheidung. Die Ebene der Handlung soll hier außerdem verbunden werden mit der Kompetenz, die für eine Handlung wichtig ist, sowie der Haltung, mit der sie ausgeführt wird. Die Ebene des Erlebens betrifft die rezeptive Seite des Menschen mit den zentralen Aspekten der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung. Jede Handlung beruht natürlich auf einer Entscheidung – wichtig ist hier, ob Freiräume zur Entscheidung innerhalb der liturgischen Normen aufgezeigt werden.

Zu welchen der genannten Ebenen werden in der Liturgiekonstitution Aussagen getroffen? Anhand der Eucharistiefeier, der wichtigsten liturgischen Versammlung, soll dies im Folgenden aufgezeigt werden.

Eine Analyse der Liturgiekonstitution

Die feiernde Versammlung wird in der Messfeier gebildet aus:

  • einem oder mehreren Priestern und evtl. anderen Klerikern;
  • den liturgischen Diensten (neben den Ministranten und den Kantoren wurden im Laufe der Liturgiereform zusätzliche liturgische Dienste eingeführt, von denen in der Praxis die Dienste der Lektoren und Kommunionhelfer zu finden sind);
  • den weiteren Gläubigen ohne besondere Aufgabe – sie stellen die große Mehrheit der feiernden Versammlung dar.

In der Liturgiekonstitution treffen die Konzilsväter zunächst allgemeine theologische Aussagen zur Liturgie und entwerfen anschließend überwiegend Perspektiven für die neue Gestaltung der Messe und anderer liturgischer Formen: Sie regen den verstärkten Gebrauch der Muttersprache an, geben dem biblischen Wort mehr Raum, führen Antworten des Volkes ein etc. Dies alles bezieht sich auf die Ebene der Handlung. Die verschiedenen Personengruppen werden nur in spezifischen Aussagen genannt, die wichtigsten Aussagen aus dem ersten Kapitel „Allgemeine Grundsätze“ sind:

  • Zeitbedingt werden in der Konstitution die Begriffe „Priester“ und „Seelsorger“ noch synonym gebraucht. Während der Eucharistiefeier ist Christus selbst in den Priestern gegenwärtig (vgl. SC 7; theologische Aussage). Sie sollen bei der Liturgie darüber wachen (Handlung), dass die liturgischen Gesetze eingehalten werden und die Gläubigen mit geistlichem Gewinn teilnehmen (vgl. SC 11). Die Seelsorger sollen „vom Geist und der Kraft der Liturgie tief durchdrungen“ sein (vgl. SC 14; Haltung) und sich um die liturgische Bildung der Gläubigen bemühen (vgl. SC 19; Handlung). Aber auch der Klerus selbst soll eine gründliche liturgische Bildung erfahren (vgl. SC 14; Kompetenz).
  • Die liturgischen Dienste sollen ihre Aufgaben in aufrichtiger Frömmigkeit und Ordnung erfüllen (vgl. SC 29; Handlung + Haltung).
  • Über die Gläubigen spricht die Liturgiekonstitution im Zusammenhang der „tätigen Teilnahme“, welche ein zentrales Prinzip der neu gestalteten Liturgie darstellt. Diese wird mit Adjektiven wie „voll“ und „bewusst“, „innere und äußere“ (vgl. SC 14, 18) näher beschrieben (Handlung + Haltung). Die Liturgie „treibt“ die Gläubigen an, dass sie, mit den österlichen Geheimnissen „gesättigt“ (Erleben), diese im Leben „festhalten“ (Haltung) und von der „drängenden Liebe Christi angezogen und entzündet“ werden (vgl. SC 10; Erleben). Dafür sollen die Gläubigen „mit recht bereiteter Seele“ (Haltung) an der Liturgie teilnehmen, damit Herz und Stimme zusammenklinge, um nicht die himmlische Gnade vergeblich, sondern mit geistlichem Gewinn zu empfangen (vgl. SC 11; Erleben). Die Gläubigen sollen liturgisch gebildet werden (Handlung + Kompetenz), wobei auf ihr Alter, ihre Verhältnisse und Art des Lebens sowie ihren Grad der religiösen Entwicklung (Kompetenz) eingegangen werden soll (vgl. SC 19).

Was ist mit dem Erleben?

Es fällt auf, dass der größte Teil der Aussagen die Handlung oder die damit verbundene ≤em>Kompetenz bzw. Haltung betrifft. Aussagen zum Erleben fielen zweimal, beide bei den Aussagen zu den Gläubigen. Jedoch wird das tatsächliche Erleben der Gläubigen nicht näher beleuchtet: Welche Ursachen hat es, wenn die Menschen von den österlichen Geheimnissen gesättigt sind oder auch, wenn sie nicht mit recht bereiteter Seele zur Liturgie hinzutreten? Die Pastoralkonstitution Gaudium et Spes (1965) zeigt dagegen großes Interesse am Leben und Erleben der Menschen, wenn sie festhält, dass die Kirche sich Hoffnung und Freude, Trauer und Angst der Menschen zu eigen macht. Das Fehlen entsprechender Aussagen in der Liturgiekonstitution stellt ein großes Defizit dar. Liturgisch-normative Freiräume zur Entscheidung werden ebenfalls nicht genannt, erst 1975 in der „Allgemeinen Einführung in das Römische Messbuch“ (vgl. AEM 313). Da die Autonomie zu den grundlegenden Wesensmerkmalen des Menschen gehört, offenbart sich hier ein weiteres Defizit.

Wenn die feiernde Versammlung Trägerin der Liturgie ist und wenn sich das Konzil zum Ziel setzte, nicht nur die Liturgie umzugestalten, sondern auch das Leben unter den Gläubigen zu vertiefen und alles zu stärken, was helfen kann, die Gläubigen in den Schoß der Kirche zu rufen (vgl. SC 1), dann sind diese Defizite eklatant. Zudem prägte die Konstitution auch schon die Zeit des Ausprobierens vor der eigentlichen Liturgiereform in den 1970er-Jahren – was damals versäumt wurde, kann später nur noch schwer nachgeholt werden. Wieder auf das Beispiel der Messe bezogen: Früher wohnten die Gläubigen der Messe der Kleriker lediglich bei und beteten währenddessen individuell, z. B. den Rosenkranz. Nun feiern Kleriker und Gläubige gemeinsam die Messe, es geschieht also eine Hinwendung zum Gottesvolk. Diese bleibt jedoch auf halbem Wege stehen, da die Konstitution allgemein die Ebene der Handlung herausstellt, was zur Folge hat, dass nicht thematisiert wird, wie die einzelnen Menschen die Messe tatsächlich erleben und welche Entscheidungen sie gerne treffen würden.

Die Konzilsväter hätten die Hirten auffordern können, sich in die Gläubigen einzufühlen – mit entsprechenden Konsequenzen für die Feiergestalt. Sie hätten die Gläubigen zur partizipativen Mitgestaltung der Messe und weiterer liturgischer Feiern explizit einladen können. Und sie hätten Richtlinien geben können, wie im Rahmen der liturgischen Normen verschiedene pfarrliche Gruppen die Liturgie hätten gemeinsam mitgestalten können: Wie können Seelsorger Gruppen (z. B. Jung und Alt) in die Messe integrieren, wenn sich deren liturgische Ausdrucksformen widersprechen? Wie gestaltet sich das Miteinander der partizipierenden Gläubigen und der Priester, welche als Stellvertreter Christi in der Messe die Letztverantwortung tragen?

Die Konzilsväter hätten Orientierung geben können und haben es leider nicht getan. Mit Sacrosanctum Concilium hat unsere Kirche einen großen Schritt vollzogen, das Gottesvolk in die Liturgie einzubinden, doch hätte mehr getan werden können. Für Oktober 2022 hat Papst Franziskus die nächste Bischofssynode angekündigt, diesmal zum Thema: „Für eine synodale Kirche: Gemeinschaft, Partizipation und Mission“. Ich wünsche mir, dass dort mit einem eigenen Abschnitt zur Liturgie das Defizit der Liturgiekonstitution behoben und entsprechend Orientierung gegeben wird.

Für den weiteren Reflexionsprozess ergeben sich folgende Fragen: Wenn in der Liturgie naturgemäß vor allem die vorstehende Person handelt, sich die Liturgiekonstitution vor allem auf das Handeln konzentriert und das Volk Gottes nur „halb“ herausstellt, wird dann zu viel Gewicht auf die der Feier vorstehende Person gelegt? Kann dies die Versuchung zum Klerikalismus fördern, das übertragene Amt nicht als großzügigen Dienst, sondern als auszuübende Macht zu verstehen (vgl. Nachsynodales Apostolisches Schreiben Christus vivit, Nr. 98)? Und weiter: Wie verändert sich Liturgie, wenn das Gottesvolk mehr eingebunden wird?

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