Aufforderungen haben selten
harmlosen Charakter. Sie sind
appellativ; die Person, die sie ausspricht,
sieht Handlungsbedarf. Die Wirkung
auf den Adressaten ist eindeutig: Tu
etwas! Manchmal wird die Aufforderung
explizit gemacht: „Ich fordere Sie auf …“,
manchmal versteckt sich das Subjekt hinter
einer passiven Formel („Sie werden hiermit
aufgefordert …“) und es bleibt anonym.
Das macht Aufforderungen so bedrohlich.
Es sind Imperative, also eine Befehlsform,
oder sie entsprechen gar einer Eroberung.
Damit drücken sie ein Machtgefälle aus.
Aufforderungen sind in unserem Alltag allgegenwärtig.
Doch in welchem Sinne werden
sie ausgesprochen? Die Sprechabsicht
dürfte vielerlei Schattierungen haben.
Und in der Heiligen Schrift? Wollen
Aufforderungen dort nicht vielmehr eine
Lebens- und Orientierungshilfe sein?
Schließlich brauchen wir etwas, das uns
mentale Kraft gibt. In den Adventslesungen
des bevorstehenden Lesejahres B sind die
Aufforderungen, sich auf das Kommen des
Herrn wachsam vorzubereiten, besonders
verdichtet. Den Lektorinnen und Lektoren
kommt hier eine große Verantwortung zu:
Durch eine gute Verkündigung können sie
beeinflussen, mit welcher Ernsthaftigkeit
die Gläubigen innerlich aufnehmen, worum
es in den Lesungen wirklich geht.
Paulus gibt im Ersten Brief an die
Thessalonicher (1 Thess 5,16–24) am 3. Adventssonntag (V. 19) einen klaren Auftrag:
„Löscht den Geist nicht aus!“ Wozu brauchen
wir diesen heute? Es ist der Textabschnitt
am Sonntag „Gaudete“, an dem
Paulus mit Aufforderungen nicht spart. Er
beginnt mit: „Freut euch …!“ Paulus schlägt
in jeweils kurzen Ansagen Freude, Gebet
und Dankbarkeit nicht nur vor, sondern
er ermahnt dazu. Es liegt ihm viel an einer
„richtigen“ Vorbereitung auf das Kommen
des Herrn, damit wir „ohne Tadel“ seien,
wie er es begründet. Eine Vorbereitung, die
nur im Bewusstsein des Beistands Gottes zu
erreichen ist, die sich aber in freudvoller
Stimmung vollziehen soll. Kann man dazu
auffordern? Sicherlich, denn Ermunterung
und Unterstützung macht jede Vorbereitung
leichter. Man kann den genannten
Textabschnitt überschwänglich, ja, bedrängend
lesen – und trotzdem strahlt er Hoffnung,
Freude und eine Erwartungshaltung
voller Zuversicht aus.
In der Grußformel „Gnade sei mit euch
und Friede …!“ (1 Kor 1,3), mit der der
1. Advent beginnt – und die wir in der Liturgie
regelmäßig hören –, verstecken sich die
Aufforderungen des Paulus gewissermaßen
in einer lobenden Erwähnung verschiedener
Gnadengaben. Wie liest man das? Der
Unterton der Ermahnung darf schon zu
hören sein, damit Gottes Beistand mehr in
unser Bewusstsein rückt. Den Herausforderungen
im Außen können wir nur mit
innerer Stärke begegnen.
Auch der Petrusbrief am 2. Advent
(2 Petr 3,8–14) spricht mit mahnenden Worten.
Er stellt Bilder der Bedrohung und Gefahr
(„die Elemente [werden] sich im Feuer
auflösen“) vor Augen. Es geht jedoch nicht
etwa darum, die Menschen zu erschrecken,
sondern sie in ihrem Alltag aufzuwecken
und dafür zu sensibilisieren, dem Kommen
des Herrn mit Freude und Zuversicht zu
begegnen. Wenn dies gelingt, gibt es nichts
zu fürchten! Beim Lesen sollte dieser Kontrast
deutlich werden: Ermahnung einerseits
und überschwängliche Zuversicht andererseits.
Ein Lektor bzw. eine Lektorin
sollte dies sehr in dem Bewusstsein lesen,
dass die Gemeinde angesprochen ist, und
nicht „für sich“, in das Buch versunken
sprechen.
Verdichtete Verheißung
Zuversicht ist das, was die Menschen in
ihren Sehnsüchten, Hoffnungen und in
ihrem Schmerz abholt. Ein besonders
eindrückliches und tiefgründiges Bild ist
vielleicht das der Heilung aller, „die gebrochenen
Herzens sind“ (Jes 61,1) – ein
Schmerz, den viele kennen und der vielen
unheilbar scheint. In der Ersten Lesung
am 3. Adventssonntag (Jes 61,1–2a.10–11)
spricht der Prophet Jesaja von sich selbst:
„Der Geist Gottes, des Herrn, ruht auf mir“.
Diese Worte zeigen die Überzeugungskraft,
die seine Sendung bestimmt. In diesem Lesungstext
dominiert eine Ausstrahlung der
Ruhe, die in facettenreichen Bildern Ausdruck
findet und die Verheißung immer
mehr verdichtet.
Nicht weniger intensiv liest sich der
Textabschnitt der Ersten Lesung am 2. Adventssonntag
(Jes 40,1–5.9–11). Gleich
zweimal lässt der Prophet Gott ausrufen:
„Tröstet“. Die Zusage der Verheißung setzt
sich in zahlreichen Aufrufen durch den
gesamten Text fort. Gleichzeitig ermahnt
der Prophet zur Vorbereitung: „Bahnt den
Weg des Herrn!“ Die Bilder, die der Prophet
zeichnet, schaffen Wärme und Weite, und
die Gedanken sollten auch so gelesen werden,
mit tiefem Atmen und einer Pause, die
dem jeweiligen Bild Raum lässt.
Eröffnet wird der Advent (Jes 63,16b–17.19b; 64,3–7) mit einer innigen Ansprache an Gott, gefolgt von einer vorwurfsvollen
Frage: „Warum lässt du uns, Herr,
von deinen Wegen abirren?“ Gleich einem
persönlichen Gebet folgen Klage, Forderungen,
dann das Erkennen und Eingestehen
von Schuld in farbigen Bildern: „wie ein
beflecktes Kleid“, „wie Laub (…) verwelkt“.
Am Ende steht die Erkenntnis, von der
Hand Gottes getragen zu sein: „Herr, du bist
unser Vater“. Intim wie ein Gebet darf dies
klingen, als persönliches Glaubenszeugnis
und zugleich stellvertretend für die hörende
Gemeinde.
Alle Texte aus Jesaja brauchen ein sehr
bewusstes Lesen. Den Hörenden muss
deutlich werden, dass mit dem Advent
eine besondere Zeit beginnt, die den Charakter
der Zuversicht ebenso wie den der
wachsamen und achtsamen Vorbereitung
hat. Eine Zeit, auf die sich einzulassen man
bereit sein muss – mit allen Forderungen
im Außen und dem Geist Gottes im eigenen
Inneren.
Verankerung in
wechselvoller Zeit
Wie können wir in der Gegenwart mit ihrer
Dynamik und Ablenkung eine Verankerung
finden? Die Texte verdichten nach und
nach die Vorbereitung auf das Kommen
des Herrn. Der Auftrag ist klar: Wir sollen
mit uns selbst und in unseren Begegnungen
wachsam und aufmerksam sein, in einer
Haltung von Freude, Gebet und Dankbarkeit,
und dies alles in dem Bewusstsein
einer tiefen Verwurzelung im Hören auf
Gott. Die Botschaften mit all ihren Aufforderungen
sollen uns durchlässig machen
für seinen Geist.
In der Zweiten Lesung am 4. Adventssonntag
(Röm 16,25–27) spricht Paulus
nicht mehr von Mahnungen an die Menschen
im Hier und Jetzt, sondern unterstreicht
mit einem ausführlichen Lobpreis
die Größe Gottes. Zweimal kommt das
Wort Ehre vor. Die Größe Gottes können
wir nur in einer Haltung der Demut zum
Ausdruck bringen. Als Lektor besteht die
Herausforderung darin, die Botschaft zu
entschlüsseln. Paulus benennt Gott nicht
gleich, sondern umschreibt ihn mit den
Worten: „dem, der die Macht hat, euch Kraft zu geben“, und erklärt, worauf
sich diese Haltung der Ehrerbietung gründet:
„gemäß meinem Evangelium und der
Botschaft von Jesus Christus“. Die Erklärung
wird noch vertieft mit dem Geheimnis,
„das seit ewigen Zeiten unausgesprochen
war“. Die nun folgende Erklärung
rückt das Geheimnis, das „durch prophetische
Schriften“ angekündigt war, in die
Gegenwart. Der Hauptsatz macht nur eine
Zeile aus. Die gesamte Fortsetzung des Satzes
begründet den Lobpreis Gottes. Den
Abschluss bildet noch einmal die Aufforderung
„Ihm (…) sei Ehre!“ Hier braucht
es eine sehr präsente Wirkung und das
persönliche Zeugnis des Lektors, um feierlich
und majestätisch zu sprechen und
zugleich das Demutsvolle zum Ausdruck
zu bringen.
Die Aufforderung „Fürchtet euch
nicht!“ färbt die Grundstimmung im Advent.
Bereits am 2. Adventssonntag hören
wir sie bei Jesaja. Es ist die Formel, der
im Weihnachtsevangelium besondere
Bedeutung zukommt und die auch im
Evangelium des 4. Advents von dem Engel
an Maria gerichtet wird. Der Gruß
des Engels lautet: „Der Herr ist mit dir.“
Das Kommen des Herrn wird greifbar.
Die gleichen Worte hören wir zuvor in
der Ersten Lesung, die der Prophet Natan
an David richtet (2 Sam 7,3). Gott spricht
durch den Propheten Natan beruhigend
auf David ein: „… ich werde meinem Volk
einen Platz zuweisen (…), damit es (…) sich
nicht mehr ängstigen muss“ (V. 10). Wie
oft sind auch in unserem Leben Dynamik
und Flexibilität gefordert, wie sehr sind
Ängste aus menschlicher Sicht begründet,
und wie sehr erfahren wir Stabilität, wenn
wir auf Gott vertrauen, der ein „Haus (…)
auf ewig“ (V. 16) zusichert. Diese innere
Sicherheit und Verankerung sollte der
vergleichsweise lange und als Erzählung
beginnende Text auch ausstrahlen.
Den Geist wachhalten
Ängste, Zweifel und Hoffnungen werfen
uns immer auf uns selbst zurück. Nur in
der Gewissheit, von einer größeren Kraft
getragen zu sein, können wir die Herausforderungen
des Lebens bestehen, und so scheint es fast, als bekämen wir in dieser
von vielen Menschen als unsicher erlebten
Zeit einen Spiegel vorgehalten. Wie
können wir stärken, was uns als Gläubige,
ja, als Gesellschaft verbindet? Indem
wir Gottes Beistand als Kraft in uns selbst
spüren. Wenn wir mit dieser inneren
Kraft in Kontakt und mit anderen im Dialog
bleiben, lassen sich Fähigkeiten weiterentwickeln.
Wir sind auf Kontakt und
Austausch angewiesen, um Strategien zu
finden, wie wir leben können. Andererseits
erleben wir paradoxerweise Distanz
und Isolation. Aufrufe, die bestärken, sind
da nicht nur willkommen, sondern unabdingbar.
Wer als Lektor die Botschaften dieser
Texte verinnerlicht, wird so vorlesen, dass
ihr Charakter und die Stimmung vermittelt
werden. Ausschlaggebend für ein lebendiges
Lesen ist eine modulierte Stimme, die
Höhen und Tiefen kennt und die anstelle
eines stereotypen Lesemusters die richtigen
Akzente setzt.
„Löscht den Geist nicht aus!“, ist vielleicht
eine Aufforderung, die am deutlichsten
in unsere Zeit passt. Kaum zuvor
wurde eine Zeit so intensiv als Wandel
erlebt. Selten zuvor hat man das Wort
Resilienz so oft gehört wie in den zurückliegenden
Monaten, als eigene Widerstandskraft,
die man den Widrigkeiten des
Lebens entgegensetzen kann. Das Wort
Gottes ist Kraft und Unterstützung auf
mentaler Ebene. Es zu verkündigen, stärkt
Lektoren in ihrem Auftrag. Es macht das
Gemeinsame und Verbindende aller Gläubigen
deutlich. Es macht deutlich, dass wir
alle aufgerufen sind, zu verkündigen, indem
wir Stabilität, Zuversicht und Überzeugungskraft
ausstrahlen. Eine Verankerung,
die nicht nur den Advent prägen
sollte.