„Wie lange noch, Herr?“

Wie kann ein Gottesdienst im Gedenken an die Corona-Opfer gestaltet sein? Die große ökumenische Feier am 18. April 2021 in Berlin hatte Vorbildcharakter.

Der Gedenkgottesdienst in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche für die Opfer der Corona-Pandemie
Nach außen zurückhaltend, im Inneren beinahe überwältigend durch das leuchtende Blau der Glaswände: Die Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche bot den passenden Rahmen für den ökumenischen Gottesdienst zum Gedenken an die Verstorbenen der Corona-Pandemie.© 2021, KNA GmbH, www.kna.de, All Rights Reserved

Es war eine schwer zu bewältigende Aufgabe, der sich die großen christlichen Kirchen in Deutschland im Rahmen des bundesweiten Gedenkens an die Verstorbenen der Corona- Pandemie stellen mussten: Wie lässt sich ein Gottesdienst gestalten, der zwar ein ausdrücklich christliches Profil aufweist, aber auch den vielen Tausenden nichtchristlichen Corona-Opfern und ihren Hinterbliebenen gerecht werden soll? Wieviel Politik ist bei einer solchen staatlich initiierten Trauerfeier angemessen? Und wie lässt sich überhaupt ein gottesdienstlicher Rahmen gestalten, der Angehörigen einen Raum der Trauer, aber auch des Trostes eröffnen soll, während gleichzeitig die „dritte Welle“ der Pandemie tobt? Trauerfeiern und Gottesdienste nach sog. Großschadensereignissen stellen an sich schon eine Herausforderung für Liturgieverantwortliche dar – umso mehr, wenn die Katastrophe noch nicht der Vergangenheit angehört, sondern gerade einen neuen Höhepunkt erreicht.

Der ökumenische Gottesdienst, zu dem der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, sowie der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing, gemeinsam mit dem Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland, Erzpriester Radu Constantin Miron, auf Bitten der deutschen Staatsspitzen am 18. April einluden, kann in Anbetracht der komplexen Ausgangslage geradezu als vorbildhaft angesehen werden. Die evangelische Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche am Berliner Breitscheidplatz bot den passenden Rahmen für die Feier: ein achteckiger, hierarchiefreier Raum, gebildet aus tausenden Glasquadraten, die mehrheitlich blaues Licht in die Kirche hineinwarfen und damit eine Atmosphäre der Ruhe und der Kontemplation erzeugten. Die wenigen zugelassenen Mitfeiernden, darunter der Bundespräsident und die Bundeskanzlerin, saßen zwar in coronakonformen Abständen im Raum verteilt, waren aber doch ausgerichtet auf den Altar mit Kerzen, Standkreuz sowie geöffneter Heiliger Schrift. Darüber schwebte überlebensgross die eindrucksvolle goldfarbene Figur des segnenden Auferstandenen mit den Wundmalen. Ein Raum, der zum stillen Trauern prädestiniert ist, aber auch die christliche Hoffnung zum Ausdruck bringt.

Im Folgenden werden – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – persönliche Eindrücke der Gottesdienstübertragung wiedergegeben:

Gelungene Elemente

  • Beeindruckend war die kirchenmusikalische Gestaltung, die ganz auf die Kraft und das Ausdrucksvermögen der menschlichen Stimme setzte: Ein herausragendes, vierstimmiges Vokalensemble („Athesinus Consort Berlin“, Leitung: Klaus-Martin Bresgott) zog sich hierbei nicht nur auf konzertante Stücke zurück, sondern performte in gleichem Maße bekannte Gesänge aus EG und GL („Wenn wir in höchsten Nöten sein“, EG 366; „Wir sind nur Gast auf Erden“, GL 505; „Herr, bleibe bei uns“, GL 89/EG 483), was emotionale Verbundenheit schuf. Dem traurigen Anlass entsprechend wurden Instrumente (Orgel, Glockenspiel sowie Handpan, ein Schlaginstrument, das aus zwei verbundenen Stahlblechschalen besteht) sparsam eingesetzt.
  • Als Lesung fungierte Ps 13,1–5 (ohne den Jubelvers 6). Auffällig war das viermalige „wie lange?“. Dies ist das eine Grundwort in den Klagepsalmen – „wie lange noch, Herr?“. Damit bringt der/die Betende die eigene Not vor Gott. Er/sie fühlt sich von ihm vergessen. In Anbetracht einer Pandemie, die nun schon über ein Jahr andauert und kein Ende zu nehmen scheint, sind dies naheliegende Worte und Fragestellungen.
  • Auch drei Betroffene der Corona-Pandemie kamen repräsentativ im Rahmen kurzer, existentieller Statements zu Wort: Ein Genesener, ein Krankenpfleger sowie eine Sopranistin, die wie viele Künstler/innen ihren Beruf bereits viele Monate nicht mehr ausüben darf und von ihrer „endlosen Ungewissheit“ berichtet. Besonders ausdrucksstark war es, dass sich alle neben die brennende Osterkerze stellten – als Zeichen, dass trotz des unaussprechlichen Leids der Tod nicht das letzte Wort hat.
  • Da die Corona-Pandemie die plurale Gesellschaft in ihrer Gesamtheit betrifft, war es naheliegend, ja sogar erforderlich, auch nichtchristlichen Religionsvertreter/innen eine Stimme zu geben. Die Gesangsbeiträge der jüdischen Kantorin Avital Gerstetter sowie des Imams Esnaf Begić, Vorsitzender des Islamkollegs Deutschland e. V., waren so gewählt, dass sie mit der christlichen Hoffnungsbotschaft im Einklang standen: Gerstetter sang „Eli, Eli“, ein Gedicht der ungarischen Widerstandskämpferin Hannah Szenes (Übers.: „Mein Gott, mein Gott, mach, dass niemals vergeht der Sand und das Meer, das Rauschen des Wassers, der Blitz des Himmels und das Menschengebet“), während Begić Sure 94 intonierte: „Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen. Haben wir nicht dein Herz geöffnet und von dir die Last genommen, die so schwer auf deinem Rücken lastete? Und haben wir nicht dich an Würde erhöht? Siehe, mit jeder Härte kommt Erleichterung! Wahrlich, mit jeder Härte kommt Erleichterung! Darum, wenn du von Bedrückung befreit bist, so bleibe standhaft und wende dich in Liebe zu deinem Herrn.“
  • Biblisches Herzstück des Gottesdienstes bildete die Emmauserzählung (Lk 24,13– 35), aufgrund ihres Umfangs zwischen den Versen 27 und 28 durch den Kanon „Herr, bleibe bei uns“ (GL 89/EG 483) unterbrochen. Rhetorisch perfekt vorgetragen wurde sie durch den Schauspieler Ulrich Noethen. Die Perikope ist nicht nur ein liturgisches Zugeständnis an die Osterzeit, sondern greift auch die Situation der heute Trauernden auf – Zusammenhänge, die in den anschließenden Kurzpredigten von Landesbischof Bedford-Strohm und Bischof Bätzing aufgezeigt wurden.
  • Dass keine Politiker/innen oder andere öffentliche Mandatsträger/innen innerhalb des Gottesdienstes zu Wort gekommen sind, hat der Feier gutgetan. Eine nichtreligiöse Gedenkveranstaltung fand am Mittag desselben Tages an einem anderen Ort, im Konzerthaus am Berliner Gendarmenmarkt, statt.

Wenige Anfragen

Obwohl der ökumenische Gottesdienst dem Anlass, der Feiergemeinschaft sowie den örtlichen Gegebenheiten absolut gerecht geworden ist, müssen dennoch Anfragen gestellt werden:

  • Es ist zu begrüßen, dass das Judentum und der Islam im Gottesdienst eine Stimme erhalten haben. Jedoch sind die Kantorin sowie der Imam nach ihren gesanglichen Beiträgen nicht mehr in Erscheinung getreten, was vermutlich der Tatsache geschuldet ist, dass ein interreligiöses Gebet von Seiten der christlichen Kirchen nicht möglich ist. Doch wäre die Form der „multireligiösen Feier“ in Anbetracht der vielen nichtchristlichen Corona-Opfer nicht angemessener gewesen als ein ökumenischer Gottesdienst?
  • Die Programmplanung des Fernsehsenders „Das Erste“ gab einen Zeitrahmen von 45 Minuten für den Gottesdienst vor. War es diesem Zeitdruck geschuldet, dass der Stille nur wenig Raum gegeben wurde?
  • Die Feier setzte auf die Kraft der Worte und der Musik. Auch der Kirchenraum wurde eindrucksvoll inszeniert. Hätten nicht weitere Symbole oder Zeichenhandlungen (z. B. eine Einladung, eine Kerze zu entzünden und ins Fenster zu stellen), eine stärkere Verbindung mit den Mitfeiernden am heimischen Bildschirm herstellen können?
  • Die Fürbitten wurden u. a. von den drei Pandemie-Betroffenen authentisch vorgetragen, da sie deren Erfahrungen inhaltlich aufgegriffen haben. Doch trägt es wirklich zur participatio actuosa bei, wenn die Fürbittanliegen mit „… darum bitte ich“ (statt „… darum bitten wir“) enden und auf einen gemeinsamen Fürbittruf ganz verzichtet wird?
  • Irritiert hat der Abschluss der Feier: Das meditative Orgelspiel wurde pünktlich um 11 Uhr von der Vorschau auf die abendliche Talkshow „Anne Will“ mit dem Thema „Streit um die ‚Bundes-Notbremse‘ – lässt sich die dritte Welle so stoppen?“ abgeschnitten. Hätte nicht eine sensiblere Form des Übergangs zum normalen Programm gefunden werden können?
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